Erschienen im April 2009 auf der Internetseite www.Lernwelt.at.
Was heißt Vatersein heute? Autoritätsverlust, veränderte Männerbilder, Patchwork-Familien -kaum eine Rolle ist so sehr im Umbruch wie die des Vaters. Die Verunsicherung ist groß -wie gehen Väter mit der Veränderung ihrer Rolle und der daran gestellten Ansprüche um?
Peter Schipek: Worin sehen Sie die besonderen Aufgaben eines Vaters für eine gelingende Entwicklung seiner Kinder?
Karl Gebauer: Mit den Begriffen Zuwendung, Anerkennung, emotionale Achtsamkeit, Anregung, Geborgenheit, Beziehungsvorbild sind grundlegende Merkmale eines zugewandten Vaters im gesamten Entwicklungsprozess skizziert. Es kommt auf das väterliche Beziehungsangebot an. In den ersten Lebensjahren besteht die Aufgabe eines Vaters vor allem darin, körperliche Nähe und ein Gefühl von Geborgenheit zu vermitteln. Er ergänzt und erweitert die wichtige Mutter- Kind-Beziehung und ist für sein Kind der „bedeutsame Dritte“. Darüber hinaus entlastet er die Mutter des Kindes von der oft permanent erforderlichen Präsenz. Seine Aufgabe in der frühen Kindheit liegt auch darin, der Verschmelzung zwischen Mutter und Kind etwas entgegen zu setzen. Neben der wichtigen – manchmal aber zu engen – Beziehung zur Mutter kann das Kind eine Zweierbeziehung zum Vater erleben.
Peter Schipek: Bedeutet das, dass die Mutter nicht mehr die wichtigste Person für ihr Kind ist?
Karl Gebauer: Oft ist das kleine Kind hin und her gerissen zwischen seinen Wünschen nach Geborgenheit und seinem Streben nach Abgrenzung und Individuation. Der Vater kann als Dritter mit dazu beitragen, dass das enge Verhältnis zwischen Mutter und Kind möglich ist. Gleichzeitig eröffnet er seinem Kind die Chance, sich aus der engen Verbindung zur Mutter zu lösen, indem er ihm Halt und Geborgenheit gibt. So kann sich das Kind immer wieder zeit- und streckenweise von der Mutter entfernen und dann wieder zu ihr zurückkehren. Der Vater gibt dem Kind so die Möglichkeit, neben der Mutter nicht nur sich selbst, sondern auch noch einen Dritten wahrzunehmen.
Peter Schipek: Wie sieht es mit konkreten Aufgaben des Vaters aus?
Karl Gebauer: Das Haupterfahrungsfeld für Babys und Kinder ist das Spiel. Im Spiel setzt sich ein Kind durch permanente Gestaltung mit sich und der Welt auseinander. Seine Selbstentwicklung basiert auf unendlich vielen Interaktionserfahrungen mit anderen Menschen in der jeweiligen Umwelt. Ein spieleinfühlfähiger Vater trägt nicht nur zu einer stabilen Bindung und der Erfahrung von Geborgenheit bei, er gibt seinem Kind über vielfältige Anregungen die Möglichkeit, die damit verbunden Erfahrungen in inneren Bildern, Geschichten und Erzählungen anzulegen und zu speichern. Somit trägt er entscheidend zur kognitiven Entwicklung bei, denn unser Gehirn enthält nicht Erinnerungen an einzelne Objekte, sondern an die emotionale Einbettung dieser Objekte in eine als bedeutsam erlebte Situation. Es sind die Szenen, die Erzählungen, die persönlichen Erlebnisse, die als erste Repräsentanzen so etwa wie eine Grund-Matrix ausbilden, auf der sich später abstrakte Gedanken und Erinnerungen abbilden.
Peter Schipek: Welche Rolle spielt der Vater hinsichtlich der sexuellen Identitätsentwicklung seiner Kinder?
Karl Gebauer: Bereits während der frühen Beziehungen zu Vater und Mutter liegen die Anfänge der sexuellen Identitätsbildung. Vater und Mutter können von dem Kind in ihrem Anderssein, in ihrer Männlichkeit und Weiblichkeit erfahren werden. Die Erfahrung beider Modi scheint unabdingbar für die psychische Entwicklung zu sein. So wichtig eine sichere Bindung zwischen Mutter und Sohn ist, so muss dieser sich im Verlauf seiner Entwicklung vom realen Geschlecht der Mutter entidentifizieren. Der kleine Junge hat bei einem zugewandten Vater, schon früh ein leibhaftiges männliches Vorbild hinsichtlich seiner Geschlechtsidentität. Der Erkenntnisprozess, nicht so zu sein wie die Mutter und der damit verbundene Schmerz kann gemildert werden, wenn der Junge von Anfang an körperliche und emotionale Erlebnisse mit seinem Vater hat. Es ist nicht Aufgabe des Vaters zweite Mutter zu sein.
Während der Phase der Pubertät werden vor allem die bisherigen Erfahrungen mit der sexuellen Identitätsbildung aktuell. Die neuen Herausforderungen, die nun an Jungen und Mädchen gestellt werden, können u.a. dann besser angenommen und bewältigt werden, wenn es positive verinnerlichte Erfahrungen über das Mann- und Frausein, wie sie es bei Vater und Mutter erlebt haben, gibt. Darüber hinaus ist es von entscheidender Bedeutung, ob ein Vater der sexuellen Entwicklung seiner Kinder positiv gegenüber steht. Eine Tochter sollte das Gefühl entwickeln können, vom Vater in ihrer Weiblichkeit anerkannt und wertgeschätzt zu werden. Dies gilt für die Entwicklung der Männlichkeit des Sohnes ebenso. Manchmal kann während dieser Phase ein Kompliment zur Kleidung oder zum Aussehen der Jugendlichen wahre Wunder bewirken. Manchen Vätern fällt es schwer, diese Übergangsphase ihrer Kinder positiv zu begleiten. Ein bewundernder Blick des Vaters kann sehr zum Selbstbewusstsein beitragen. Das bedeutet nicht, dass auf kritische Auseinandersetzung in dieser Phase verzichtet werden müsste.
Peter Schipek: Kann man davon ausgehen, dass sich viele Väter den Auseinandersetzungen während der Pubertät nicht stellen?
Karl Gebauer: Dafür gibt es Hinweise. Die Situation des Vaters ist während dieser Phase nicht einfach. Ich möchte den inneren Prozess skizzieren: Die einst idealisierten Seiten des Vaters werden im Verlauf der Adoleszenz zunehmend durch die Erfahrung mit dem realen Vater in Frage gestellt. Es sind jene positiven Erfahrungen, die dem Heranwachsenden bisher eine innere Orientierung boten. Auch das eigene Selbst wird zunehmend realistisch wahrgenommen. Es werden sowohl beim Vater als auch beim Jugendlichen die Stärken und Schwächen sichtbar und wahrnehmbar. Die Ent-Idealisierung vom Vater wird oft auch mit einer abrupten Zerstörung eines inneren Bildes verglichen. Damit sind in der Regel Ängste verbunden. Der zuvor als stark und mächtig erlebte Vater kann am Ende dieses Prozesses seine Tochter/ seinen Sohn nicht mehr „schützen.“ In diesem Zusammenhang kommt der Mutter eine große Bedeutung zu. Innerhalb des oft sehr heftig verlaufenden Prozesses einer Entwertung des Vaters kann sie eine vermittelnde Funktion bei der psychischen Wiederherstellung eines positiven Vaterbildes einnehmen.
Innerhalb des Entwicklungsprozesses während der Adoleszenz geht es einerseits um eine Art Regression, eine Sehnsucht nach der Sicherheit in der Kindheit, verbunden mit einer Idealisierung der Eltern und andererseits um ein in die Zukunft gerichtetes Streben nach Unabhängigkeit. Beide Strebungen kommen sich gelegentlich in die Quere.
Oft stellt sich bei den Jugendlichen in einem späteren Alter Scham darüber ein, dass sie während dieser Jahre etwas verächtlich auf Vater und Mutter herabgeblickt haben. Gelingt die Lösung aus der festen Bindung zu den Eltern, dann stellt sich nach und nach eine erwachsene Eltern-Kind- Beziehung ein.
Peter Schipek: Was heißt das für die Rolle des Vaters?
Karl Gebauer: Der Übergang von der Kindheit ins Erwachsenenalter ist eine Zeitspanne, in der das innere Bild vom Vater besonders intensiv überprüft und gegebenenfalls verändert wird. Gelingt der Prozess der Entidealisierung, bei dem es um eine Modifikation des inneren Vaterbildes geht, dann führt dies zu größerer Selbstständigkeit, verbunden mit mehr Verantwortungsbereitschaft für die eigene Identitätsentwicklung.
Peter Schipek: Welche Bedeutung hat die Beziehungsqualität auf der Mann-Frau-Ebene für die Entwicklung der Kinder?
Karl Gebauer: Damit ein Vater seine vielfältigen Aufgaben erfüllen kann, ist eine Akzeptanz seiner Rolle durch seine Frau von großer Bedeutung. Er wird seine Vaterrolle dann besonders gut ausfüllen können, wenn er von seiner Frau nicht nur als Partner, sondern auch als Vater des gemeinsamen Kindes akzeptiert und anerkannt wird. In der Umkehrung wird die Mutter ihr Kind eher freigeben können, wenn sie von ihrem Mann als Partnerin akzeptiert und als Mutter des Kindes geschätzt wird. Wenn Vater, Mutter und Kind positiv aufeinander bezogen sind, kann man von einem gelungenen Triangulierungsprozess sprechen. Damit ist eine dynamische Dreierbeziehung, bei der es zwischen Vater/Mutter/Kind je spezifische Beziehungen gibt, gemeint. Auch wenn diese Prozesse in der heutigen Zeit in vielen Familien nicht oder nur begrenzt gelingen, ist dies kein Grund, sie als unwichtig anzusehen.
Peter Schipek: Welche Auswirkungen oder Störungen können sich aus dem Fehlen einer Vaterbeziehung im späteren Leben ergeben?
Karl Gebauer: Steht kein Vater als nahe Person zur Verfügung, so kann dies den unbedingt erforderlichen Ablösungsprozess von der Mutter erschweren. Grundlage für das spätere Vatersein ist die Entwicklung einer männlichen Identität. Diese ist nur möglich über Erfahrungen mit männlichen Vorbildern. Vor diesem Hintergrund kommt den „Ersatzobjekten“ für einen Vater eine besondere Bedeutung zu.
Scheitert dieser Versuch, dann kann der Sohn ein Leben lang auf die enge Beziehung zur Mutter fixiert bleiben und sich auf eine unendliche Reise der Sehnsucht nach dem Vater begeben. Bleibt es bei einer Orientierung an der Weiblichkeit, kann eine Abgrenzung nicht gelingen. Die Ausbildung einer männlichen und später auch einer väterlichen Identität wird erschwert oder verhindert.
Lehnt die Mutter ihren Partner/Ehemann als Vater für ihr Kind ab, dann erschwert sie ebenfalls den Aufbau der männlichen Identität ihres Sohnes. Der Vater erscheint als blasser Repräsentant des Männlichen und wird oft auch so verinnerlicht. Eine Identifikation mit einem Vater, der über bestimmte Zeiträume abwesend ist, ist dann möglich, wenn sein Bild in der Vorstellung der Mutter positiv besetzt ist.
Nicht selten kommt es vor, dass der Vater anwesend aber emotional abwesend ist. Ein solcher Vater kann den Entwicklungsprozess seiner Kinder enorm beeinträchtigen. Er kann vor allem die Identitätsentwicklung seines Sohnes erschweren. Es mangelt an der Erfahrung von Nähe und Geborgenheit; sichere emotionale Bindungen können nicht entwickelt werden. Eine Identifizierung mit dem Vater erscheint nicht erstrebenswert, somit entfällt die Chance einer Idealisierung des Vaters. Eine innere Orientierung in schwierigen Situationen an einem verlässlichen Vaterbild ist nicht möglich. In einer solchen Situation ist es auch schwer, Erfahrungen für eine positive sexuelle Identitätsentwicklung zu sammeln. Der Vater entfällt auch als Helfer beim Umgang mit Gefühlen. Oft richten sich die Aggressionen über Projektion und Inszenierung nach außen, weil der Aufbau eines inneren psychischen Raumes, in dem die unterschiedlichen Gefühle bearbeitet werden können, wegen Unfähigkeit oder Desinteresse aufseiten des Vaters nicht errichtet werden konnte. Während der Adoleszenz gelingt von einem solchen Vater auch nur schwer der erforderliche Ablösungsprozess. Wo keine Idealisierung entstanden ist, kann auch eine Entidealisierung nicht erfolgen. Es bleibt eine Leerstelle, die aber gefüllt werden muss, wenn männliche und später väterliche Identität entwickelt werden sollen.
Peter Schipek: Ist die Bedeutung des Vaters größer als man bisher angenommen hat?
Karl Gebauer: Die positive Bedeutung des Vaters für die Entwicklung seiner Kinder ergibt sich nicht aus der Quantität seiner Anwesenheit, sondern aus der Qualität seines Interesses. Eine zugewandte väterliche Haltung wird sichtbar im Interesse für die Entwicklung des Kindes, in der Anerkennung seiner Bedürfnisse, in emotionaler Achtsamkeit gegenüber seinen Wünschen, und in Anregungen für seine körperliche, emotionale, soziale und kognitive Entwicklung.
Wichtig sind vor allem die emotionalen Fähigkeiten eines Vaters. Der „moderne Vater“ zeichnet sich u.a. dadurch aus, dass er sich in die Wünsche und Bedürfnisse der anderen familiären Mitglieder einfühlen und diese auch in seinem Handeln berücksichtigen kann. Er sollte also über Kommunikationsfähigkeit verfügen. Die Ehe- oder Partnerzufriedenheit nimmt bei der Frage, welche Bedingungen erfüllt sein sollten, damit ein Vater seine Aufgaben besonders gut erfüllen kann, einen nicht zu unterschätzenden Stellenwert ein.
Quelle: http://lernwelt.at/begegnungen/begegnungen-teil-2/dr-karl-gebauer/die-bedeutung-des-vaters.html