„Langeweile kann die Fantasie anregen“

Erschienen auf https://www.main-echo.de/freizeit/mami-papi-ich/eltern/art490001,6607213

Spie­len ist für Kin­der der bes­te Weg, für das Le­ben zu ler­nen. Mit Päda­go­ge Karl Ge­bau­er sprach Re­dakteu­rin Fee Ber­t­hold-Geis dar­über, ob Kin­der über­haupt Spiel­zeug brau­chen und warum Lan­ge­wei­le gut ist.

Der Spielefachmann hat mehrere Bücher zu Erziehungs- und Bildungsfragen veröffentlicht und 17 Jahre lang jährlich einen Bildungskongress an der Georg-August-Universität in Göttingen geleitet.

Warum ist Spielen so wichtig?Kinder müssen fast alles, worauf es in ihrem späteren Leben ankommt, durch eigene Erfahrungen lernen. Für ihre Entwicklung brauchen sie daher Spiel- und Erlebnisräume, die ihnen Entdeckungen ermöglichen.Bei Beobachtungen zeigt sich immer wieder, dass sich kleine Kinder bereits über längere Zeitspannen mit einem Gegenstand beschäftigen können. Das kann ein kleiner Ast, ein Spielzeugauto, ein Löffel, eine Puppe, eine Halskette der Mutter, ? sein. Kinder fassen die Objekte an, bewegen sie hin und her, beobachten und erkunden, was damit alles möglich ist. Dadurch werden die Grundlagen für entdeckendes Lernen und Forschen geschaffen.

Wie hängen Spielen und Fantasie zusammen? Ein Mobile über dem Kinderbett oder im Kinderzimmer regt nicht nur die kindliche Fantasie an, sondern führt auch dazu, dass Kinder diese Bewegungen durch Greifen und Pusten beeinflussen wollen. Überhaupt versuchen kleine Kinder durch das Greifen ihre nahe Welt zu »begreifen«. So geht nahezu jedes Kind in den ersten Monaten seines Lebens mit seinen kleinen Fingern im Gesicht von Mutter oder Vater auf Entdeckungstour. Wenn die Erwachsenen sich darauf einlassen, eventuell muntere Geräusche machen, wenn sich ihr Kind mit ihrer Nase beschäftigt, dann kann das die schönsten emotionalen Erfahrungen auslösen. Es wird beim Kind den Wunsch wecken, diese überraschende und wohltuenden Situationen immer wieder herbeizuführen.

Weil das glücklich macht?Ja, während dieser Aktivitäten werden im Gehirn Glückshormone, also Opioide ausgeschüttet, die ein Kind motivieren, solche interessanten Situationen immer wieder herbeiführen zu wollen. Seine Motivation wird entwickelt und gestärkt. In einer solchen Eltern-Kind-Beziehung werden die Grundlagen für entdeckendes Lernen gelegt. Solche freudigen Erlebnisse werden im Gehirn verankert. Es werden die beteiligten Nervenzellen im Gehirn miteinander verknüpft und es bilden sich Netzwerke, die mit darüber entscheiden, ob sich Kinder gerne neuen Aufgaben zuwenden und konzentriert lernen können.

Brauchen Kinder Spielzeug?Kinder brauchen nicht unbedingt das neueste Spielzeug, das der Markt bietet, sie brauchen Gegenstände und Materialien, die sie anregen, herausfordern und ihnen immer wieder die Chance eröffnen, ihre ganz eigenen Erfahrungen mit den Sachen zu machen. Für Kinder ist ihre nahe Umwelt von großer Bedeutung. In der Regel blicken sie mit Interesse auf die vielen Alltagsdinge, die sie in ihrem Kinderzimmer, im Wohnzimmer oder Bad vorfinden. Später machen sie Entdeckungen vor allem mit Materialien wie Wasser, Erde oder Sand. Der Sandkasten ist – ebenso wie das Spielen im Gebüsch – ein idealer Ort für Entdeckungen aller Art.

Die Kinder einfach machen lassen?Entscheidend ist, ob Eltern ihren Kindern genügend Freiräume lassen. Hier ergeben sich auch Konflikte unter den Kindern. Gelegentlich auch unter den Eltern. Es ist gut für die Kinder, wenn Eltern ein Verständnis für diese Konflikte haben und mit dem nötigen Einfühlungsvermögen helfen, die jeweilige Situation zu klären. Hier liegen die großen Chancen für die Entwicklung von sozialer Kompetenz.

Geht die Fähigkeit zu spielen heute stückweise verloren?In manchen Forschungsberichten wird auf dieses Phänomen hingewiesen. Die Zeiten ändern sich, es gibt neue Spielangebote. In manchen Angeboten lauert die Gefahr, nur noch sehr einseitige Spiele zu spielen. Für eine gute Entwicklung ist es entscheidend, ob sich Eltern ihren Kindern in genügendem Maße zuwenden. Oft sind sie durch die Beschäftigung mit ihrem Smartphone abgelenkt.

Was kann man machen, damit Kinder die Fähigkeit zu spielen nicht verlieren? Hilfreich kann sein, sich als Eltern an die eigene Kindheit und die Spiele, die man gespielt hat, zu erinnern und zu überlegen, was einem damals gefehlt oder Freude bereit hat. Es ist vor allem wichtig, sich Zeit für sein Kind zu nehmen, es beim Spiel zu beobachten, sich an seinem Tun zu freuen und die Freude auch zu zeigen und auszusprechen.

Ist Langeweile etwas Gutes?Ein Kind sollte nicht permanent in Aktion sein. Erwachsene müssen nicht ständig springen, wenn das Kind nicht weiß, was es tun soll. Ruhe und Entspannung sind in der Kindheit wichtige Erfahrungen. Langeweile kann sich in Tagträume verwandeln und Fantasie anregen.

Sie sprechen von der »Zauberkraft des Spiels«? Was meinen Sie damit?Im Spiel zeigt sich die ganze Vitalität eines Kindes. Es kann versonnen spielen, kann gezielt bestimmte Dinge untersuchen und entdecken, was man mit ihnen alles machen kann. Im Spiel kann ein Kind vor allem aber die emotionale Gestimmtheit seiner Lebenssituation nachempfinden. Die einfühlende Zuwendung der Eltern vermitteln dem Kind Sicherheit und Geborgenheit. Sein Blick wird frei für alles was in seiner Umgebung möglich ist.

In seinem Tun, kann ein Kind erleben, dass es schon etwas bewirken kann. Es macht im Spiel die Erfahrung von »Selbstwirksamkeit«. Dies führt zu einer inneren Haltung, die wir Motivation nennen. Ein Kind entwickelt im und durch das Spiel enorme Kräfte für den Augenblick und für seine Zukunft. Es wohnt daher dem Spiel eine wahre Zauberkraft inne.

Nach 17 Veranstaltungen ist Schluss

Die Kongresse für Erziehung und Bildung werden eingestellt. Das haben die Veranstalter, Karl Gebauer und Beatrix Schminke-Gebauer, mitgeteilt. 17 Mal präsentierten bei den Kongressen Wissenschaftler aktuelle Forschungsergebnisse den Teilnehmern: Lehrern, Erziehern und Sozialpädagogen.

Erschienen im Göttinger Tageblatt am 14.03.2018: http://www.goettinger-tageblatt.de/Campus/Goettingen/Goettinger-Kongress-fuer-Erziehung-und-Bildung-nach-17-Veranstaltungen-beendet

Göttingen. Die Kongresse für Erziehung und Bildung werden eingestellt. Das haben die Veranstalter, das Ehepaar Karl Gebauer und Beatrix Schminke-Gebauer, mitgeteilt. 17 Mal präsentierten bei den Kongressen Wissenschaftler aktuelle Forschungsergebnisse den Teilnehmern: Lehrern, Erziehern und Sozialpädagogen.

„Wieso verstehen das alle, nur ich nicht?“, erkundigte sich ein Drittklässler nach dem Matheunterricht bei seinem Lehrer, Gebauer. „Das würde ich selbst gerne wissen“, dachte der langjährige Rektor der Göttinger Leineberg-Grundschule. „Um solche Fragen zu klären, müssten wir Lehrkräfte und Erzieherinnen mit Wissenschaftlern zusammenbringen“, sagte Gebauer im Gespräch mit dem Göttinger Neurobiologen, Prof. Gerald Hüther. Damit kam die Kongressidee bei dem Pädagogen auf.

900 Teilnehmer beim ersten Kongress im Jahr 2000

„Für die erste Veranstaltung im Jahr 2000 mieteten wir einen kleinen Raum im Zentralen Hörsaalgebäude der Universität“, erinnert sich Gebauer (78). Doch bereits 14 Tage nach Verschicken der Einladungen habe es 300 Anmeldungen gegeben. Am Ende seien 900 Teilnehmer gekommen.

„Wir haben den Nerv der Zeit getroffen“, erklärt der Pädagoge, der damals nach 35 Berufsjahren vor der Pensionierung stand. Um die Jahrtausendwende häfuten sich Probleme mit schwierigen Kindern. Die Arbeitsbelastung habe zugenommen. Gleichzeitig sei das Interesse an den Neurowissenschaften groß gewesen, erinnert sich Gebauer

Interdisziplinärer Ansatz

„Professor Hüther gehörte in den ersten Jahren zu den Mitveranstaltern“, sagt Gebauer. Dann trennten sich ihre Wege. „Ich wollte den Kreis der Referenten für Schulforscher, Psychologen, Soziologen und Philosophen öffnen“, führt Gebauer aus. Aus verschiedenen Blickwinkeln sollten drängende Fragen der Praxis beleuchtet werden. Dafür habe er Fachleute wie den Schweizer Kinderarzt Remo Lago, den Freiburger Psychiater Joachim Bauer oder den Heidelberger Mediziner Franz Resch gewonnen. Allein beim letzten Kongress sprachen 30 Referenten.

Kritik an „messender Pädagogik“

„Kritisch standen wir von Anfang an der messenden Pädagogik gegenüber, wie sie in den Pisa-Studien zum Ausdruck kommt“, erläutert der ehemalige Lehrer. Das Team habe immer mehr die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder und nicht das „Eintrichtern“ von Wissen im Blick gehabt.

„Um Teilnehmer zu aktivieren, haben wir im Laufe der Jahre zunehmend Workshops und Diskussionsforen angeboten“, sagt Schminke-Gebauer (65). Aus ihrer Arbeit als Erzieherin und Heilpädagogin wisse sie, wie anstrengend die Tätigkeit im Erziehungswesen sei. Daher habe es während der Kongresse auch künstlerische Angebote gegeben. So malten 80 bis 100 Teilnehmer mit Ute Wieder vom Göttinger Kinderatelier im ersten Stock des Zentralen Hörsaalgebäudes. Der Gießener Kinderliedermacher, Frederik Vahle, („Der Cowboy Jim aus Texas“) sei mehrmals zu Gast gewesen.

„Wir haben zudem Schüler eingebunden“, sagt Gebauer. Die Jazztified-Band des Göttinger Hainberg-Gymnasiums sei ebenso aufgetreten wie der Kinder- und Jugendzirkus der IGS. Das Catering übernahmen Arnoldi-Schüler.

Frauenanteil von 80 Prozent

„Mit 1000 bis 1400 Teilnehmern hat sich unsere Veranstaltung zu einem der größten deutschen Bildungskongresse entwickelt“, betont Gebauer, der 2004 promovierte. 80 Prozent der Teilnehmer seien Frauen gewesen. Ein gutes Drittel habe aus Südniedersachsen gestammt. Stark vertreten seien Bürger aus den angrenzenden Bundesländern gewesen. Zum Teil seien ganze Fachschul-Klassen mit ihren Dozenten angereist. Einmal hätten sie den Kongress auch in Heidelberg und dreimal in Wolfsburg durchgeführt.

„Wir haben unsere beiden Söhne und die Tochter in die Durchführung eingebunden“, sagt Schminke-Gebauer. Acht Personen sei das Vorbereitungsteam stark gewesen. „Das finanzielle Risiko der 40 000 bis 50 000 Euro teuren Veranstaltung haben meine Frau und ich getragen“, betont Gebauer. Nun hörten sie altersbedingt auf. Vorträge etwa zur Lehrergesundheit oder zu den Folgen der Digitalisierung will Gebauer aber weiter halten.

Von Michael Caspar

Die Bedeutung des Vaters – Interview mit Dr. Karl Gebauer

Erschienen im April 2009 auf der Internetseite www.Lernwelt.at.

Was heißt Vatersein heute? Autoritätsverlust, veränderte Männerbilder, Patchwork-Familien -kaum eine Rolle ist so sehr im Umbruch wie die des Vaters. Die Verunsicherung ist groß -wie gehen Väter mit der Veränderung ihrer Rolle und der daran gestellten Ansprüche um?

Peter Schipek: Worin sehen Sie die besonderen Aufgaben eines Vaters für eine gelingende Entwicklung seiner Kinder?

Karl Gebauer: Mit den Begriffen Zuwendung, Anerkennung, emotionale Achtsamkeit, Anregung, Geborgenheit, Beziehungsvorbild sind grundlegende Merkmale eines zugewandten Vaters im gesamten Entwicklungsprozess skizziert. Es kommt auf das väterliche Beziehungsangebot an. In den ersten Lebensjahren besteht die Aufgabe eines Vaters vor allem darin, körperliche Nähe und ein Gefühl von Geborgenheit zu vermitteln. Er ergänzt und erweitert die wichtige Mutter- Kind-Beziehung und ist für sein Kind der „bedeutsame Dritte“. Darüber hinaus entlastet er die Mutter des Kindes von der oft permanent erforderlichen Präsenz. Seine Aufgabe in der frühen Kindheit liegt auch darin, der Verschmelzung zwischen Mutter und Kind etwas entgegen zu setzen. Neben der wichtigen – manchmal aber zu engen – Beziehung zur Mutter kann das Kind eine Zweierbeziehung zum Vater erleben.

Peter Schipek: Bedeutet das, dass die Mutter nicht mehr die wichtigste Person für ihr Kind ist?

Karl Gebauer: Oft ist das kleine Kind hin und her gerissen zwischen seinen Wünschen nach Geborgenheit und seinem Streben nach Abgrenzung und Individuation. Der Vater kann als Dritter mit dazu beitragen, dass das enge Verhältnis zwischen Mutter und Kind möglich ist. Gleichzeitig eröffnet er seinem Kind die Chance, sich aus der engen Verbindung zur Mutter zu lösen, indem er ihm Halt und Geborgenheit gibt. So kann sich das Kind immer wieder zeit- und streckenweise von der Mutter entfernen und dann wieder zu ihr zurückkehren. Der Vater gibt dem Kind so die Möglichkeit, neben der Mutter nicht nur sich selbst, sondern auch noch einen Dritten wahrzunehmen.

Peter Schipek: Wie sieht es mit konkreten Aufgaben des Vaters aus?

Karl Gebauer: Das Haupterfahrungsfeld für Babys und Kinder ist das Spiel. Im Spiel setzt sich ein Kind durch permanente Gestaltung mit sich und der Welt auseinander. Seine Selbstentwicklung basiert auf unendlich vielen Interaktionserfahrungen mit anderen Menschen in der jeweiligen Umwelt. Ein spieleinfühlfähiger Vater trägt nicht nur zu einer stabilen Bindung und der Erfahrung von Geborgenheit bei, er gibt seinem Kind über vielfältige Anregungen die Möglichkeit, die damit verbunden Erfahrungen in inneren Bildern, Geschichten und Erzählungen anzulegen und zu speichern. Somit trägt er entscheidend zur kognitiven Entwicklung bei, denn unser Gehirn enthält nicht Erinnerungen an einzelne Objekte, sondern an die emotionale Einbettung dieser Objekte in eine als bedeutsam erlebte Situation. Es sind die Szenen, die Erzählungen, die persönlichen Erlebnisse, die als erste Repräsentanzen so etwa wie eine Grund-Matrix ausbilden, auf der sich später abstrakte Gedanken und Erinnerungen abbilden.

Peter Schipek: Welche Rolle spielt der Vater hinsichtlich der sexuellen Identitätsentwicklung seiner Kinder?

Karl Gebauer: Bereits während der frühen Beziehungen zu Vater und Mutter liegen die Anfänge der sexuellen Identitätsbildung. Vater und Mutter können von dem Kind in ihrem Anderssein, in ihrer Männlichkeit und Weiblichkeit erfahren werden. Die Erfahrung beider Modi scheint unabdingbar für die psychische Entwicklung zu sein. So wichtig eine sichere Bindung zwischen Mutter und Sohn ist, so muss dieser sich im Verlauf seiner Entwicklung vom realen Geschlecht der Mutter entidentifizieren. Der kleine Junge hat bei einem zugewandten Vater, schon früh ein leibhaftiges männliches Vorbild hinsichtlich seiner Geschlechtsidentität. Der Erkenntnisprozess, nicht so zu sein wie die Mutter und der damit verbundene Schmerz kann gemildert werden, wenn der Junge von Anfang an körperliche und emotionale Erlebnisse mit seinem Vater hat. Es ist nicht Aufgabe des Vaters zweite Mutter zu sein.

Während der Phase der Pubertät werden vor allem die bisherigen Erfahrungen mit der sexuellen Identitätsbildung aktuell. Die neuen Herausforderungen, die nun an Jungen und Mädchen gestellt werden, können u.a. dann besser angenommen und bewältigt werden, wenn es positive verinnerlichte Erfahrungen über das Mann- und Frausein, wie sie es bei Vater und Mutter erlebt haben, gibt. Darüber hinaus ist es von entscheidender Bedeutung, ob ein Vater der sexuellen Entwicklung seiner Kinder positiv gegenüber steht. Eine Tochter sollte das Gefühl entwickeln können, vom Vater in ihrer Weiblichkeit anerkannt und wertgeschätzt zu werden. Dies gilt für die Entwicklung der Männlichkeit des Sohnes ebenso. Manchmal kann während dieser Phase ein Kompliment zur Kleidung oder zum Aussehen der Jugendlichen wahre Wunder bewirken. Manchen Vätern fällt es schwer, diese Übergangsphase ihrer Kinder positiv zu begleiten. Ein bewundernder Blick des Vaters kann sehr zum Selbstbewusstsein beitragen. Das bedeutet nicht, dass auf kritische Auseinandersetzung in dieser Phase verzichtet werden müsste.

Peter Schipek: Kann man davon ausgehen, dass sich viele Väter den Auseinandersetzungen während der Pubertät nicht stellen?

Karl Gebauer: Dafür gibt es Hinweise. Die Situation des Vaters ist während dieser Phase nicht einfach. Ich möchte den inneren Prozess skizzieren: Die einst idealisierten Seiten des Vaters werden im Verlauf der Adoleszenz zunehmend durch die Erfahrung mit dem realen Vater in Frage gestellt. Es sind jene positiven Erfahrungen, die dem Heranwachsenden bisher eine innere Orientierung boten. Auch das eigene Selbst wird zunehmend realistisch wahrgenommen. Es werden sowohl beim Vater als auch beim Jugendlichen die Stärken und Schwächen sichtbar und wahrnehmbar. Die Ent-Idealisierung vom Vater wird oft auch mit einer abrupten Zerstörung eines inneren Bildes verglichen. Damit sind in der Regel Ängste verbunden. Der zuvor als stark und mächtig erlebte Vater kann am Ende dieses Prozesses seine Tochter/ seinen Sohn nicht mehr „schützen.“ In diesem Zusammenhang kommt der Mutter eine große Bedeutung zu. Innerhalb des oft sehr heftig verlaufenden Prozesses einer Entwertung des Vaters kann sie eine vermittelnde Funktion bei der psychischen Wiederherstellung eines positiven Vaterbildes einnehmen.

Innerhalb des Entwicklungsprozesses während der Adoleszenz geht es einerseits um eine Art Regression, eine Sehnsucht nach der Sicherheit in der Kindheit, verbunden mit einer Idealisierung der Eltern und andererseits um ein in die Zukunft gerichtetes Streben nach Unabhängigkeit. Beide Strebungen kommen sich gelegentlich in die Quere.

Oft stellt sich bei den Jugendlichen in einem späteren Alter Scham darüber ein, dass sie während dieser Jahre etwas verächtlich auf Vater und Mutter herabgeblickt haben. Gelingt die Lösung aus der festen Bindung zu den Eltern, dann stellt sich nach und nach eine erwachsene Eltern-Kind- Beziehung ein.

Peter Schipek: Was heißt das für die Rolle des Vaters?

Karl Gebauer: Der Übergang von der Kindheit ins Erwachsenenalter ist eine Zeitspanne, in der das innere Bild vom Vater besonders intensiv überprüft und gegebenenfalls verändert wird. Gelingt der Prozess der Entidealisierung, bei dem es um eine Modifikation des inneren Vaterbildes geht, dann führt dies zu größerer Selbstständigkeit, verbunden mit mehr Verantwortungsbereitschaft für die eigene Identitätsentwicklung.

Peter Schipek: Welche Bedeutung hat die Beziehungsqualität auf der Mann-Frau-Ebene für die Entwicklung der Kinder?

Karl Gebauer: Damit ein Vater seine vielfältigen Aufgaben erfüllen kann, ist eine Akzeptanz seiner Rolle durch seine Frau von großer Bedeutung. Er wird seine Vaterrolle dann besonders gut ausfüllen können, wenn er von seiner Frau nicht nur als Partner, sondern auch als Vater des gemeinsamen Kindes akzeptiert und anerkannt wird. In der Umkehrung wird die Mutter ihr Kind eher freigeben können, wenn sie von ihrem Mann als Partnerin akzeptiert und als Mutter des Kindes geschätzt wird. Wenn Vater, Mutter und Kind positiv aufeinander bezogen sind, kann man von einem gelungenen Triangulierungsprozess sprechen. Damit ist eine dynamische Dreierbeziehung, bei der es zwischen Vater/Mutter/Kind je spezifische Beziehungen gibt, gemeint. Auch wenn diese Prozesse in der heutigen Zeit in vielen Familien nicht oder nur begrenzt gelingen, ist dies kein Grund, sie als unwichtig anzusehen.

Peter Schipek: Welche Auswirkungen oder Störungen können sich aus dem Fehlen einer Vaterbeziehung im späteren Leben ergeben?

Karl Gebauer: Steht kein Vater als nahe Person zur Verfügung, so kann dies den unbedingt erforderlichen Ablösungsprozess von der Mutter erschweren. Grundlage für das spätere Vatersein ist die Entwicklung einer männlichen Identität. Diese ist nur möglich über Erfahrungen mit männlichen Vorbildern. Vor diesem Hintergrund kommt den „Ersatzobjekten“ für einen Vater eine besondere Bedeutung zu.

Scheitert dieser Versuch, dann kann der Sohn ein Leben lang auf die enge Beziehung zur Mutter fixiert bleiben und sich auf eine unendliche Reise der Sehnsucht nach dem Vater begeben. Bleibt es bei einer Orientierung an der Weiblichkeit, kann eine Abgrenzung nicht gelingen. Die Ausbildung einer männlichen und später auch einer väterlichen Identität wird erschwert oder verhindert.

Lehnt die Mutter ihren Partner/Ehemann als Vater für ihr Kind ab, dann erschwert sie ebenfalls den Aufbau der männlichen Identität ihres Sohnes. Der Vater erscheint als blasser Repräsentant des Männlichen und wird oft auch so verinnerlicht. Eine Identifikation mit einem Vater, der über bestimmte Zeiträume abwesend ist, ist dann möglich, wenn sein Bild in der Vorstellung der Mutter positiv besetzt ist.

Nicht selten kommt es vor, dass der Vater anwesend aber emotional abwesend ist. Ein solcher Vater kann den Entwicklungsprozess seiner Kinder enorm beeinträchtigen. Er kann vor allem die Identitätsentwicklung seines Sohnes erschweren. Es mangelt an der Erfahrung von Nähe und Geborgenheit; sichere emotionale Bindungen können nicht entwickelt werden. Eine Identifizierung mit dem Vater erscheint nicht erstrebenswert, somit entfällt die Chance einer Idealisierung des Vaters. Eine innere Orientierung in schwierigen Situationen an einem verlässlichen Vaterbild ist nicht möglich. In einer solchen Situation ist es auch schwer, Erfahrungen für eine positive sexuelle Identitätsentwicklung zu sammeln. Der Vater entfällt auch als Helfer beim Umgang mit Gefühlen. Oft richten sich die Aggressionen über Projektion und Inszenierung nach außen, weil der Aufbau eines inneren psychischen Raumes, in dem die unterschiedlichen Gefühle bearbeitet werden können, wegen Unfähigkeit oder Desinteresse aufseiten des Vaters nicht errichtet werden konnte. Während der Adoleszenz gelingt von einem solchen Vater auch nur schwer der erforderliche Ablösungsprozess. Wo keine Idealisierung entstanden ist, kann auch eine Entidealisierung nicht erfolgen. Es bleibt eine Leerstelle, die aber gefüllt werden muss, wenn männliche und später väterliche Identität entwickelt werden sollen.

Peter Schipek: Ist die Bedeutung des Vaters größer als man bisher angenommen hat?

Karl Gebauer: Die positive Bedeutung des Vaters für die Entwicklung seiner Kinder ergibt sich nicht aus der Quantität seiner Anwesenheit, sondern aus der Qualität seines Interesses. Eine zugewandte väterliche Haltung wird sichtbar im Interesse für die Entwicklung des Kindes, in der Anerkennung seiner Bedürfnisse, in emotionaler Achtsamkeit gegenüber seinen Wünschen, und in Anregungen für seine körperliche, emotionale, soziale und kognitive Entwicklung.

Wichtig sind vor allem die emotionalen Fähigkeiten eines Vaters. Der „moderne Vater“ zeichnet sich u.a. dadurch aus, dass er sich in die Wünsche und Bedürfnisse der anderen familiären Mitglieder einfühlen und diese auch in seinem Handeln berücksichtigen kann. Er sollte also über Kommunikationsfähigkeit verfügen. Die Ehe- oder Partnerzufriedenheit nimmt bei der Frage, welche Bedingungen erfüllt sein sollten, damit ein Vater seine Aufgaben besonders gut erfüllen kann, einen nicht zu unterschätzenden Stellenwert ein.

Quelle: http://lernwelt.at/begegnungen/begegnungen-teil-2/dr-karl-gebauer/die-bedeutung-des-vaters.html

hr2 Kultur: Am Tisch mit Karl Gebauer, „Kinder-Lobbyist“

Ausgestrahlt auf hr2 Kultur am 27.12.2011 .

In dem Maß, wie unsere Welt immer weiter aus den Fugen gerät, geraten wir es selbst auch: Trennungen, Existenzangst, Burnout … Kein Wunder, dass auch unsere Kinder heute vermehrt unruhig, unkonzentriert und ausschließlich auf sich selbst bezogen sind.

Der Pädagoge und ehemalige Göttinger Schulrektor Karl Gebauer publiziert seit Jahren zu aktuellen Erziehungsfragen. Sein Credo für eine erfolgreiche Erziehung ist schlicht: Liebe sei das Geheimnis, sagt er. Kinder brauchen stärkende Beziehungen und ausreichend Zuwendung, um ein gesundes Selbstwertgefühl zu entwickeln, das auch die Voraussetzung ist für soziale Kompetenz. Es liegt auf der Hand. Und scheint im Alltag doch nicht so einfach zu leben zu sein, wie es klingt. Neue Perspektiven für eine gelingende Entwicklung: darum geht’s es unter anderem in diesem Doppelkopf, eine Wiederholung vom 27. Dezember 2011.

Gastgeberin: Ulrike Schneiberg

Radiointerview downloaden…

Quelle: http://www.hr-online.de/website/radio/hr2/index.jsp?rubrik=9902&key=standard_document_50676327

 

„Klug wird niemand von allein“ – Peter Schipek im Gespräch mit Dr. Karl Gebauer

Erschienen im August 2009 auf der Internetseite Lernwelt.at

Lernprobleme, Schulsorgen. Was können Eltern tun, um ihre Kinder zu fördern? Wie können Kinder ihre natürliche Neugier behalten, statt in den „Lernfabriken“ jegliches Interesse zu verlieren? Was macht Kinder wirklich klug? Erziehung und Bildung hängen mit unseren Gefühlen zusammen. Gelingendes Lernen findet in erster Linie in einer anregenden,wertschätzenden Atmosphäre statt – sei es in der Familie, im Kindergarten oder auch in der Schule.

Nur Liebe und Zuwendung machen wirklich klug, wie der Autor eindrucksvoll anhand vieler Fallbeispiele aus seiner jahrzehntelangen Erfahrung als Lehrer und Schulleiter belegt. Ohne Liebe und Zuwendung kein Lernen – das zeigt auf eindrucksvolle Weise der erfahrene Pädagoge Karl Gebauer.

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Quelle: http://lernwelt.at/begegnungen/begegnungen-teil-2/dr-karl-gebauer/klug-wird-niemand-von-allein.html

Mobbing in der Schule“ – scoyo im Gespräch mit Dr. Gebauer

Gebauer180Erschienen auf der Internetseite www.scoyo.de .

scoyo: Einer Studie der LBS zufolge leidet jeder dritte Schüler unter Mobbing. Hat Mobbing aus Ihrer Sicht in den letzten Jahren zugenommen?

Dr. Gebauer: Ob es eine Zunahme gegeben hat, lässt sich schwer beurteilen, weil die Vergleichszahlen fehlen. Auch die aktuellen Zahlen über die Häufigkeit des Auftretens von Mobbing schwanken. Das hängt unter anderem davon ab, was man unter Mobbing versteht. Ich gehe davon aus, dass etwa sechs Prozent der Schülerinnen und Schüler von Mobbing betroffen sind. Für diese Kinder ist es allerdings wichtig, dass sie von ihren Lehrerinnen und Lehrern Hilfe erfahren. Diese müssen Ausgrenzungen wahrnehmen und als Machtdemonstrationen begreifen, die sich Schüler oder Schülerinnen vor ihren Augen erlauben.

scoyo: Wo hört normales, ungestümes Kinderverhalten auf und fängt Mobbing an?

Dr. Gebauer: Mobbing ist ein aggressiver Akt und bedeutet, dass eine Schülerin oder ein Schüler über einen längeren Zeitraum belästigt, schikaniert oder ausgegrenzt wird. In der Regel geht die Aggression von einer Person aus. Ein Mobber wählt einen Schüler oder eine Schülerin als Opfer aus. Der Mobber – es kann auch eine Mobberin sein – schart andere um sich, die ihn bei seinen erniedrigenden Handlungen aktiv oder passiv unterstützen. Bei Mobbing gerät eine Schülerin / ein Schüler in eine absolut hilflose Situation. Dabei spielt das Gefühl der Angst eine große Rolle. Die Mitläufer spielen das grausame Spiel mit, weil sie Angst haben, sonst selbst Opfer zu werden. Das Opfer versteht in der Regel nicht, warum es beleidigt, gequält und gedemütigt wird.

scoyo: Welche Formen des Mobbings gibt es?

Dr. Gebauer: Mobbing kann sich andeuten, wenn z.B., Hefte und andere Materialien verschwinden, wenn Schulsachen beschädigt werden oder Gerüchte verbreitet werden. Es kommt vor, dass ein Schüler  oder eine Schülerin von Gruppenarbeiten ausgeschlossen wird. In manchen Fällen darf sich ein Opfer nicht aktiv am Unterricht beteiligen. Demütigungen erfolgen mit Worten und Zeichnungen auf Zetteln, in Schülerzeitungen und in Briefen. Oft werden Opfer in demütigende Situationen gebracht und dabei mit dem Handy fotografiert. Anschließend werden die Szenen gemeinsam angeschaut, als E-Mail verschickt oder gar ins Internet gestellt. Unter Jugendlichen kommt es zu  sexuellen Diffamierungen.

scoyo: Was macht Kinder zu Mobbing-Tätern?

Dr. Gebauer: Die Lebenssituation von Mobbern zeichnet sich durch große Unsicherheit aus. Oft haben spätere Täter während ihrer Kindheit nicht die Zuwendung und Beachtung erfahren, die zu einem gesunden Selbstwertgefühl führt. Manchmal sind sie selbst Opfer von Demütigungen und Gewalt gewesen. Das innere Muster eines Mobbers kann man als Versuch ansehen, eigene Ohnmachtserfahrungen zu überwinden, indem er gegenüber Schwächeren Macht ausübt. Es geht um den untauglichen Versuch,  eigene Unsicherheit und Angst in ein Gefühl von Sicherheit zu verwandeln. Ein Kind, das über ein gutes Selbstwertgefühl verfügt, muss andere nicht demütigen.

scoyo: Aus Schamgefühl oder Einschüchterungen seitens der Peiniger verschweigen einige Kinder, dass Sie Opfer von Mobbing geworden sind. Woran erkenne ich als Elternteil, dass mein Kind unter Mobbing leidet?

Dr. Gebauer: Eltern und Lehrer sollten auf ganz alltägliche Dinge achten. Wenn zum Beispiel ein bisher guter Schüler in seinen Leistungen plötzlich stark nachlässt, wenn er morgens nicht aufstehen mag, keine Lust mehr auf die Schule hat, sich ständig unwohl fühlt, über Kopf- und / oder Bauchschmerzen klagt, können das Hinweise auf Mobbing sein.

scoyo: Welchen Rat geben Sie Eltern von Mobbing-Opfern?

Dr. Gebauer: Wenn Eltern davon erfahren, dass ihr Kind gemobbt wird, haben sie keine wichtigere Aufgabe als sich in den kommenden Wochen und Monaten auf die Seite ihres Kindes zu stellen und es bei allen weiteren Auseinandersetzungen zu unterstützen. Ein grober Fehler wäre es, dem Opfer eine Mitschuld zu geben. Dabei sollten sie nichts untenehmen, ohne vorher mit ihrem Kind darüber gesprochen zu haben. Sie sollten im Verwandten- und Freundeskreis nach Personen ihres Vertrauens Ausschau halten und diese in den Klärungsprozess mit einbeziehen. Oft machen sich Erwachsene nicht klar, dass ein Mobbingopfer – vor allem, wenn es lange geschwiegen hat – sein Selbstvertrauen völlig verloren hat. Es muss daher zunächst ein Netz von Beziehungen aufgebaut werden, in dem sich das Opfer sicher und geborgen fühlen kann. Eltern sollten möglichst schon im Vorfeld mit der Schule Kontakt aufnehmen und mit dafür sorgen, dass Mobbing professionell bearbeitet werden kann. Hilfreich ist es, wenn Lehrkräfte eine gute Beziehung zu ihren Schülern aufbauen und das Klären von Konflikten zu einem zentralen Anliegen ihrer Unterrichtsarbeit machen. So entsteht Vertrauen. Darin liegt der wirksamste Schutz gegenüber Mobbing. Wenn durch die Schule keine Unterstützung erfolgt, ist ein Schulwechsel dringend zu empfehlen.

Quelle: http://www-de.scoyo.com/eltern/2011/03/mobbing-karl-gebauer-im-gespraech/

Mobbing in der Schule – so schützen Sie Ihr Kind

Erschienen auf der Internetseite www.bildungsexperten.net .

Wie entsteht Mobbing und wie können Eltern ihre Kinder schützen? bildungsXperten sprach mit Dr. Karl Gebauer, Autor des Buches “Mobbing in der Schule”, der selber 35 Jahre lang als Lehrer tätig war, über die Ursachen und Folgen von Mobbing.

bildungsXperten: Herr Dr. Gebauer, was bedeutet überhaupt „Mobbing“? Wo enden „harmlose“, „alterstypische“ Konflikte unter Kindern und wo fängt Mobbing an?

Dr. Karl Gebauer: Gelegentliche Streitereien und Rangeleien gehören zum Alltag von Kindern. Aber Mobbing ist ein aggressiver Akt und bedeutet, dass ein Schüler oder eine Schülerin über einen längeren Zeitraum belästigt, schikaniert oder ausgegrenzt wird. Der Mobber – es kann auch eine Mobberin sein – schart andere um sich, die ihn bei seinen erniedrigenden Handlungen unterstützen. Man spricht von Mobbing, wenn sich alles auf ein Kind zuspitzt. Das Opfer versteht in der Regel nicht, warum es beleidigt, gequält und gedemütigt wird. Diese Erfahrung, „alle sind gegen mich“, beeinträchtigt massiv sein Selbstwertgefühl. Es gerät in eine absolut hilflose Situation und braucht daher fast immer die Hilfe anderer Personen. Täter wollen treffen, selbst aber nichts abbekommen. Sie legen großen Wert darauf, dass Erwachsene ihr Tun nicht durchschauen.

bildungsXperten: Welche Formen von Mobbing gibt es?

Dr. Karl Gebauer: Mobbing kann sich andeuten, wenn z.B., Schulsachen beschädigt oder Gerüchte verbreitet werden. Es kommt vor, dass ein Schüler  oder eine Schülerin von Gruppenarbeiten ausgeschlossen wird. Demütigungen erfolgen über Mimik, Gestik und Zeichnungen. Beleidigungen unterschiedlichster Art werden auf Zetteln, in Schülerzeitungen und in Briefen mitgeteilt. Oft werden Opfer in demütigende Situationen gebracht und dabei mit dem Handy fotografiert. Anschließend werden die Szenen gemeinsam angeschaut, als e-Mail verschickt oder gar ins Internet gestellt. Unter Jugendlichen kommt es auch zu  sexuellen Diffamierungen.

bildungsXperten: Hat die Zahl von Mobbing-Fällen an Schulen in den letzten Jahren zugenommen?

Dr. Karl Gebauer: Es ist schwer zu beurteilen, ob es zu einer Zunahme gekommen ist, weil die Vergleichszahlen fehlen.  Die aktuellen Zahlen über die Häufigkeit des Auftretens von Mobbing schwanken. Das hängt unter anderem mit der Definition von Mobbing zusammen. Einige Wissenschaftler gehen davon aus, dass etwa jeder sechste Schüler als Mobbingopfer angesehen werden kann.

bildungsXperten: Was bringt Kinder dazu, andere Kinder zu mobben?

Dr. Karl Gebauer: Zunächst möchte ich hervorheben, dass Kinder mit einem guten Selbstwertgefühl andere nicht mobben müssen. Sie fühlen sich wohl, haben Freunde und in der Regel auch Lernerfolge. Warum sollten sie also andere demütigen?

Als Ursachen von Mobbing kann man ansehen: Tiefe Kränkungen, Erfahrung von Gewalt, Traumatisierungen, Beschämungen und Erfahrungen von Ausgrenzungen. Mobbing speist sich aus einem untauglichen inneren Arbeitsmodell, mit dem ein Mensch versucht, selbst erfahrene Ohnmacht in Macht umzuwandeln. Dem Mobbing liegt eine destruktive-emotionale Dynamik zugrunde. Diese kann sich dann entwickeln, wenn Kinder in Ohnmachtsituationen keine vertrauensvollen und sie schützenden Helfer hatten. Sie übernehmen dann das Handlungsmuster ihrer Peiniger. 14 Prozent der Eltern erziehen nach einer neuen Studie gewaltbelastend, d.h. die betroffenen Kinder sind erheblichen Gewalthandlungen ausgesetzt. Wenn man dann noch bedenkt, dass 90 Prozent aller Eltern gewaltfrei erziehen wollen, es aber nur 30 Prozent schaffen, dann liegt hier ein Reservoir für künftige Gewaltanwender.

bildungsXperten: Können Eltern Mobbing entgegenwirken?

Dr. Karl Gebauer: Der Aufbau eines gesunden Selbstwertgefühls ist der beste Schutz vor einer Verstrickung in Mobbing. Ein gutes Selbstwertgefühl entwickelt sich in der frühen Kindheit über die Erfahrung von Geborgenheit.

Sichere Bindungserfahrungen sind die beste Grundlage für den Aufbau von Verhaltensmustern, die einen Menschen weitgehend davor schützen, andere demütigen zu müssen, denn mit der Erfahrung von Geborgenheit wird im kindlichen Gehirn die Fähigkeit zu Empathie ausgebildet. Mobbing zeichnet sich durch die Abwesenheit von Empathie aus. Kinder mit einem guten Selbstwertgefühl haben keine Veranlassung zu mobben. Sie können allerdings Opfer werden.

In diesem Fall sind sie aber eher als andere in der Lage, sich Hilfe bei Lehrkräften oder ihren Eltern zu holen, da sie im Verlauf ihrer Entwicklung die Erfahrung von Vertrauen gemacht haben.

bildungsXperten: Bei welchen Anzeichen sollten Eltern aufhorchen?

Dr. Karl Gebauer: Eltern sollten auf ganz alltägliche Dinge achten. Wenn ihr Kind zum Beispiel  bisher gerne zur Schule ging und auch gute Leistungen erbrachte, nun aber in seinen Leistungen nachlässt, wenn es morgens nicht aufstehen mag, keine Lust mehr auf die Schule hat, sich ständig unwohl fühlt, über Kopf- und / oder Bauchschmerzen klagt, können das Hinweise auf Mobbing sein. Eltern sollten diese Beobachtungen als Ausgangpunkt für Gespräche mit ihrem Kind nehmen.

bildungsXperten: Und wie kann man seinem Kind als Mutter oder Vater helfen, wenn es bereits in eine Mobbingsituation geraten ist?

Dr. Karl Gebauer: Besteht zwischen Eltern und Kind ein Vertrauensverhältnis, dann wird ein Kind auch offen über seine Situation sprechen. Viele Kinder reden in solchen Situationen nicht mit den Eltern, weil sie der Meinung sind, die Eltern seien in den Notsituationen des schulischen Alltags nicht anwesend, könnten ihnen dann ohnehin nicht helfen. Vertraut sich ein Kind seinen Eltern an, gilt als oberstes Gebot, nichts ohne Wissen und Zustimmung des Kindes zu unternehmen.

In einem echten Mobbingfall hat ein Kind bereits erhebliche Anteile seines Selbstvertrauens eingebüßt. Wenden sich nun die Eltern hinter dem Rücken ihres Kindes an die Klassenlehrerin oder den Schulleiter, dann geht der Rest an Vertrauen auch noch den Bach hinunter. Eltern sollten vor allem ihrem Kind gegenüber deutlich machen, dass sie ganz auf seiner Seite stehen. In gemeinsamen Überlegungen sollte sie die nächsten Schritte überlegen. Das können dann Gespräche mit den Lehrkräften oder der Schulleitung sein. Dabei ist darauf zu achten, dass von deren Seite alles getan wird, dass sich das betroffene Kind in den folgenden Tagen und Wochen sicher fühlen kann. Opferschutz steht bei allen Maßnahmen an oberster Stelle.

bildungsXperten: Wie kommt man als Mobbingopfer aus diesem Teufelskreis heraus? Gibt es Stellen, an die man sich anonym wenden kann und wo man Hilfe bekommt?

Dr. Karl Gebauer: Zunächst ist es aus meiner Sicht wichtig, dass sich das Opfer Personen seines Vertrauens sucht. Das können die Eltern, gute Freunde oder Verwandte sein. Grundsätzlich können sich Opfer an die schulischen, örtlichen oder regionalen Beratungsstellen wenden.

Generell sollte gelten, dass Mobbing dort bearbeitet wird, wo es entsteht. Das ist für Schüler und Lehrer die Schule. Die Schulleitung muss dafür Sorge tragen, dass es ein schulinternes Mobbinginterventionsteam von gut ausgebildeten Lehrkräften gibt, an die sich Schüler, aber auch Lehrer und Eltern wenden können.

bildungsXperten: Wie kann ein solches Inverventionsteam helfen?

Dr. Karl Gebauer: Allein das Wissen um die Existenz eines Interventionsteams trägt zu einer Beruhigung der oft turbulenten Ereignisse bei. Deshalb ist es wichtig, dass Schüler, Eltern und Lehrkräfte über die Arbeitsweise und die Kompetenzen eines Interventionsteams informiert sind. Dabei kommt es darauf an, eine Atmosphäre des Vertrauens zu schaffen. Dann – aber nur dann – gibt es  eine Vielzahl von Möglichkeiten: Gespräche mit dem Opfer; Gespräche zwischen Opfer und Täter;  Gespräche in kleinen Gruppen; Gespräche mit den Eltern, Gespräche mit allen Beteiligten.

bildungsXperten: Beim Mobbing gibt es meist einen „Leitwolf“ und mehrere Mitläufer, die mobben, weil sie Angst haben, sonst selbst zum Opfer zu werden. Was kann ich tun, wenn ich mich als Schüler in einer solchen Situation befinde?

Dr. Karl Gebauer: Mit der Frage ist bereits angedeutet, dass das Gefühl der Angst bei Mobbing eine entscheidende Rolle spielt. Diese Erfahrung lässt manche Kinder zu Mitläufern werden. Für einen konstruktiven Umgang mit Mobbing ist entscheidend, dass die verantwortlichen Erwachsenen eine Vorstellung von den Gefühlen der Akteure haben, um zu verstehen, warum sich Kinder in einer solchen Situation oft handlungsunfähig fühlen.

Die Innenwelt der Mitläufer zeichnet sich durch Gefühle wie Angst, Ohmacht und Unsicherheit aus. Gegenüber dem Opfer verhalten sie sich „kalt“, dem Täter gegenüber geben sie sich unterwürfig. Die Ambivalenz ihrer Gefühle lässt ihnen oft keine Ruhe und treibt sie dazu, mindestens zu signalisieren, dass hier etwas schief läuft. Täter haben keine Veranlassung an der Situation etwas zu ändern. In allen Fällen wirkt das Grundgefühl der Angst. Das Muster der Gefühle lässt sich so zusammenfassen: Das Opfer weiß nicht, warum ihm das passiert. Der Täter strebt nach Macht und Überlegenheit. Mitläufer sind hin und her gerissen. Es braucht also Vertrauen und Mut auf der Seite der Opfer und Mitläufer, wenn sie an der Situation etwas ändern wollen.  Leider sind diese emotionalen Potenziale oft schon zu stark beeinträchtigt oder gar zerstört.

bildungsXperten: Gibt es typische Opferbilder, oder kann Mobbing jeden treffen?

Dr. Karl Gebauer: Große, schlanke, kleine, dicke, dünne, hübsche und weniger hübsche, kluge und weniger kluge Kinder können Opfer werden. Es gibt nicht das typische Opfer. Wird zum Beispiel ein Schüler mit herausragenden Leistungen Opfer, dann führt das leicht zu der Annahme, er sei ein Streber und das sei ihm zum Verhängnis geworden. Es trifft aber auch Schüler mit Lern- und Verhaltensproblemen.

Schnell wird nach möglichen Anteilen des Opfers gesucht. Es scheint so zu sein, dass wir gerne möglichst schnell die Gründe für Mobbing erkennen möchten. Oft orientieren wir uns an äußeren Merkmalen. Es entlastet uns von der Erkenntnis, dass in einem Mobbingprozess eine innere Dynamik wirkt, die wir oft nicht verstehen. Wir müssen es aushalten, dass wir noch nicht wissen, warum ein Mensch zum Opfer eines Mobbers wird.

Es gibt auch noch keine Antwort auf die Frage, mit welchem Spürsinn ein Mobber sein Opfer aussucht. Wir kennen die Strukturen von Mobbing, können die Handlungsweisen der Akteure beschreiben, verfügen über ein Wissen hinsichtlich der Folgen von Mobbing. Wir können uns auch das Leiden der betroffenen Opfer vorstellen. Wir können Hypothesen über die Hintergründe und das Zusammenspiel dieser komplexen gruppendynamischer Ereignisse aufstellen, aber ein Wissen über das fein gesponnene Zusammenwirken innerer Handlungsmuster  in Verbindung mit äußeren Ereignissen, haben wir noch nicht. Es bleibt die Frage: Wie verhakt sich ein Täter in sein Opfer?

bildungsXperten: Immer wieder hört man von „Cyber-Mobbing“, zur Zeit sorgt die Mobbing-Webseite „Isharegossip“, auf der Nutzer anonym andere Schüler und Lehrer beschimpfen konnten, für Furore. Was versteht man eigentlich unter „Cyber-Mobbing“ und warum ist dieses Thema so präsent?

Dr. Karl Gebauer: Cyber-Mobbing ist eine Variante von Mobbing. Personen werden beschimpft, beleidigt und diffamiert und aus Internetaktivitäten ausgegrenzt.

Oft geht es um sexuelle Bloßstellungen oder es werden bestimmte sexuelle Praktiken unterstellt. Es geht im weitesten Sinne um eine Verletzung des persönlichen Lebensbereichs.

Cyber Mobbing wird häufig von denjenigen eingesetzt, die auch auf anderem Wege Gewalt ausüben, steht also in einem Zusammenhang mit Mobbing-Attacken, wie sie in der Schulrealität stattfinden. Das bedeutet, dass Cyber-Mobbing mindestens teilweise durch Präventions- und Interventionsmaßnahmen bearbeitet werden kann, mit denen man auch dem in der Schulgemeinschaft auftretenden Mobbing begegnet.

Die Folgen des Cyber-Mobbing werden von manchen Beobachtern für das Opfer als verheerend eingeschätzt. Es sind Fälle bekannt, in denen Opfer den Tod als „Ausweg“ wählten. Nach einer Studie bezeichnen allerdings 84 % der befragten Schülerinnen und Schüler Cyber-Mobbing als weniger schlimm als traditionelles Mobbing. Auch hinsichtlich des „großen Unbekannten“ liefert eine Untersuchung ein „beruhigendes“ Ergebnis: 89 % Prozent der Opfer wissen, wer hinter den Demütigungen steckt.

Das ist ein klarer Hinweis darauf, dass in der Realität an dem Phänomen Mobbing gearbeitet werden muss. Es sollten die bekannten Formen der Prävention und Intervention greifen. In der Prävention geht es unter individuellem Aspekt um den Aufbau eines guten Selbstwertgefühls;  bezogen auf die Schulgemeinschaft kommt es darauf an, immer wieder Werte, Arbeitshaltung und soziale Spielregeln zu thematisieren.

bildungsXperten: Können sich Opfer von Mobbing jemals aus dieser Rolle befreien? Oder muss, wer in der Schule gemobbt wurde, auch als Erwachsener Angst vor Mobbing haben? An wen können sich erwachsene Betroffene für Hilfe wenden?

Dr. Karl Gebauer: Aufgedeckte und bearbeitete Mobbingsituationen tragen zur Entwicklung psychosozialer Kompetenz bei. Diese Kompetenz schafft Schutz vor künftigen Mobbingsituationen. Wenn es den Lehrkräften gelingt, Mobbing in behutsamer Weise zu bearbeiten, dann können alle Beteiligten daraus einen Nutzen ziehen. Sie sind künftigen Mobbingsituationen nicht mehr hilflos ausgeliefert. Das gilt für Täter, Mitläufer und für Opfer. Entscheidend ist die Erfahrung, dass man zur Lösung des Problems beigetragen hat. Diese Erfahrung führt dazu, dass sich im Gehirn Muster des Gelingens ausbilden. Sollte eine solche Bearbeitung nicht möglich gewesen sein, dann kann man davon ausgehen, dass dieses intensive negative Erlebnis verdrängt wird. Die damit verbundene Angst kann dann durch ähnliche Erlebnisse wieder ausgelöst werden.

bildungsXperten: Vielen Dank für das Interview!

Das Interview führte Sarah Dreyer

Quelle: http://www.bildungsxperten.net/bildungschannels/schule/mobbing-in-der-schule-so-schuetzen-sie-ihr-kind/

Patenschaftsprojekt: „Zeit für ein Kind“

Ein Gespräch mit Dr. Annette Streeck-Fischer und Dr. Karl Gebauer. Die Fragen stellte Sabine Ihlenfeldt, Administratorin von win-future (2005)

Ihlenfeldt: Seit mehr als vier Jahren gibt es in Göttingen ein Patenschaftsprojekt, in dem Kinder im Grundschulalter ein Jahr lang von einer Patin oder einem Paten einBeziehungsangebot erhalten. Frau Dr. Streeck-Fischer, Sie sind Chefärztin der Abteilung Klin. Psychotherapie von Kindern und Jugendlichen im Landeskrankenhaus Tiefenbrunn bei Göttingen. Was hat sie bewogen, zusammen mit Herrn Dr. Gebauer dieses Patenschaftsprojekt zu entwickeln?

Streeck-Fischer: Die Bürgerstiftung Göttingen hat uns vor etwa vier Jahren gebeten, ein Projekt zu entwickeln, in dem Kindern im Schulalter die Chance eröffnet wird, zusätzlich zum familiären Erziehungsangebot eine Unterstützung durch eine weitere Person zu erhalten. Das war der Ausgangspunkt für die Entwicklung unseres Patenschaftspojektes. Wir haben dann mit interessierten Personen verschiedene Möglichkeiten erörtert. Herausgekommen ist das Projekt, bei dem eine Patin oder ein Pate ein Jahr lang einmal in der Woche einem Kind drei Stunden Zeit schenkt.

Ihlenfeldt: Herr Dr. Gebauer, Sie waren viele Jahre Schulleiter einer Göttinger Grundschule. Hat die Entwicklung dieses Projektes etwas zu tun mit ihren Erfahrungen in der Schule?

Gebauer: Die Grundidee besteht darin, etwas für Kinder zu tun, die nicht so leicht durch die Schule und das Leben gehen. Die Ursachen für Lern- und Verhaltensprobleme mancher Kinder haben etwas damit zu tun, dass diese Kinder während ihrer bisherigen Entwicklung nicht die Anregungen erhalten haben, die sie brauchen, um erfolgreich in der Schule mitarbeiten zu können. Aus verschiedenen Forschungsbereichen wissen wir, dass eine gute Beziehung die Grundlage für alle Lernprozesse darstellt.

Streeck-Fischer: Unsere Arbeit basiert auf Kenntnissen aus der Bindungs-, Entwicklungsund Resilienzforschung. Die Ergebnisse zeigen, dass Angebote qualitativ neuer und anderer Beziehungen positive Entwicklungen in Gang bringen können. Ziel ist die Verinnerlichung eines hilfreichen Begleiters.

Gebauer: Es geht bei den individuellen Aktivitäten um die Entwicklung von Bindungs- und Beziehungsfähigkeit, um Unterstützung im sprachlichen Austausch und um Entwicklung von Reflexivität, es geht letztlich um positive Erfahrungen mit sich, mit anderen und mit der Umwelt.

Ihlenfeldt: Ist die heutige familiäre Situation vieler Kinder dafür verantwortlich, dass sie sich

nicht mehr angemessen entwickeln können?

Streeck-Fischer: Für die Probleme, die heutzutage viele Kinder haben gibt es viele Ursachen. Es ist sicherlich sinnvoll auch die familiäre Situation daraufhin zu befragen, ob ein Kind in seiner Entwicklung eine ausreichende Erfahrung von Zuwendung und Geborgenheit hatte. Die Situation vieler alleinerziehender Mütter ist z.B. so, dass sie sich oft sehr alleingelassen und mit den täglichen Anforderungen überlastet fühlen.

Gebauer: Während früher Kinder in großen Familien gelebt haben und die Chance hatten, zu vielen Menschen Beziehungen aufzubauen, fehlt diese Möglichkeit heute fast völlig. Jede Familie kann aber in eine Situation kommen, in der Hilfe von außen sinnvoll ist. Kinder in unserem Projekt kommen aus den unterschiedlichsten familiären Konstellationen. Viele Patenkinder stammen aus Familien, die ein zusätzliches Beziehungsangebot als hilfreich ansehen. Diese Eltern unterstützen die Patenschaften.

Ihlenfeldt: Kann man die Arbeit der Patin mit einer Hausaufgabenhilfe vergleichen?

Streeck-Fischer: Wir haben nichts dagegen, wenn eine Patin ihrem Patenkind auch einmal bei den Hausaufgaben hilft. Aber es ist nicht das zentrale Anliegen unseres Projektes. Es geht darum, einem Kind Zeit zu schenken.

Gebauer: Viele Kinder leiden darunter, dass nahe Erwachsene ein zu geringes Interesse an ihrer Entwicklung haben. Es fehlt oft an ruhigen Situationen, in denen Mutter und/oder Vater ihrem Kind zuhören oder mit ihm über die vielen alltäglichen Belange reden, über Erfolge in der Schule aber auch über Probleme im Umgang mit anderen Kindern oder den Lehrern.

Ihlenfeldt: Geht es bei den Patenschaften um therapeutische Maßnahmen?

Streeck-Fischer: Nein. Es geht um ein Art der Zuwendung, die mit den in unserer Kultur bereits existierenden Patenschaften, z.B. bei der Taufe eines Kindes, vergleichbar ist. Wenn ein Kind Sorgen oder Kummer hat und sich für eine Lösung im engeren familiären Umfeld keine oder nur eine unzulängliche Lösung anbietet, dann sollte eine Patin hilfreich einspringen können.

Ihlenfeldt: Wie werden die Kinder ausgewählt, die für eine solche Patenschaft infrage kommen?

Gebauer: Wir arbeiten eng mit Göttinger Grundschulen zusammen. Die Klassenlehrer der Patenkinder helfen dem Verein bei der Vermittlung. Wenn eine Klassenlehrerin den Eindruck hat, dass einem Kind das von uns angebotene Beziehungsangebot helfen könnte, dann nimmt sie mit den Eltern Kontakt auf, erklärt den Sinn des Patenschaftsprojektes und sorgt bei Zustimmung der Eltern für den ersten Kontakt zwischen Patin, Kind und Familie. Die Klassenlehrerin stellt ein wichtiges Bindeglied zwischen Eltern und Patenschaft dar. Sie ist gleichsam die Vertrauensperson für die Eltern, die ja in der Regel die Mitarbeiter des Patenschaftsprojektes nicht kennen. Eltern brauchen Sicherheit, bevor sie ihr Kind in die Obhut anderer Menschen geben.

Ihlenfeldt: Wie kann man sich diesen Vermittlungsprozess vorstellen?

Streeck-Fischer: In der Anfangsphase haben wir Informationsveranstaltungen für Lehrer, Lehrerinnen und potenzielle Paten angeboten. Dabei haben wir an Beispielen deutlich gemacht, dass in vielen Fällen zu spät auf die Probleme eines Kindes regiert wird. Oft fällt ein Kind erst auf, wenn gravierende Probleme sichtbar werden. Unser Ziel ist es, die Wahrnehmung dafür zu schärfen, ob und wann ein Kind Hilfe braucht. Es geht darum, den Kindern frühzeitig zu helfen . So kann in vielen Fällen einer negativen Entwicklung vorgebeugt werden. Zur allgemeinen Information haben wir einen Flyer entwickelt, der über die Geschäftsstelle zu erhalten ist.

Ihlenfeldt: Welche Qualifikation braucht man als Patin?

Streeck-Fischer: Die Menschen, die sich für eine Patenschaft interessieren, sollten Lebenserfahrung mitbringen und Kinder mögen. Sie sollten darüber hinaus bereit sein, an den Supervisionstreffen teilzunehmen. Eine gute Beziehung zwischen Patin und Kind muss sich entwickeln können. Dabei sind Irritationen und Störungen der unterschiedlichsten Art denkbar.

Im Rahmen der Supervision, die in einem 14tägigen Rhythmus stattfindet, können diese Probleme unter der Leitung einer qualifizierten Supervisorin oder einem Supervisor erörtert und geklärt werden. Zur Zeit gibt es 3 Supervisionsgruppen. Hier werden Probleme besprochen, Erfahrungen ausgetauscht und Anregungen weitergegeben.

Gebauer: Zu Beginn einer Patenschaft führen die beiden Vorsitzenden des Vereins „Zeit für ein Kind“, das sind Frau Streeck-Fischer und ich, ein Gespräch mit den potenziellen Paten. Dabei geht es um die Motivation der Paten, ihre bisherigen Erfahrungen im Umgang mit Kindern, ihre zeitlichen Ressourcen und um ihre Bereitschaft, in der Supervisionsgruppe mitzuarbeiten. Wir weisen in diesem Gespräch darauf hin, dass es primär um ein Beziehungsangebot für ein Kind geht. Von den Patinnen und Paten erwarten wir eine starke Zurückhaltung gegenüber dem familiären System. Es kann und darf nicht Aufgabe einer Patin sein, in das familiäre Geschehen über den speziellen Aufgabenbereich hinaus einzuwirken.

Ihlenfeldt: Wie groß ist das Patenschaftsprojekt?

Streeck-Fischer: : Es gibt 30 Patenschaften. In der Regel verpflichtet sich eine Patin/ein Pate für ein Jahr. Aber Patenschaften können in beiderseitigem Einverständnis auch länger dauern. So gibt es Patenschaften, die bereits einen Zeitraum von drei Jahren umfassen. Sollten sich auftretende Probleme nicht konstruktiv lösen lassen, so kann eine Patenschaft auch beendet werden. Der Prozess eines vorzeitigen Abbruchs sollte in die Supervisionsgruppe geklärt und begleitet werden. .

Ihlenfeldt: Was machen Patin und Kind miteinander?

Gebauer: Die Paten treffen sich einmal in der Woche für drei Stunden mit ihrem Patenkind, hören ihm zu, gehen mit ihm spazieren, spielen mit ihm oder lesen gemeinsam mit ihm ein Buch. Wir sind überrascht und sehr angetan von der großen Fülle an Ideen, die Kind und Patin für die gemeinsame Zeit entwickeln. In bestimmten Zeitabständen gibt es für die Kinder und ihre Paten das Angebot gemeinsamer Erkundungen in Wald und Feld.

Ihlenfeldt: Wie sehen die bisherigen Erfahrungen aus?

Streeck-Fischer: Zweimal im Jahr treffen wir uns mit den Patinnen und Lehrerinnen, die ein Kind vermittelt haben. Diese Treffen dienen der gegenseitigen Vergewisserung. Die Erfahrung aus den ersten Jahren des Projektes haben gezeigt, dass den Kindern diese zusätzliche geschenkte Zeit gut tut. Patinnen und Lehrerinnen berichten insgesamt über eine positive Entwicklung der einzelnen Kinder.

Ihlenfeldt: Wie finanzieren Sie das Projekt?

Gebauer: Die Patinnen/Paten üben ihre Tätigkeit ehrenamtlich aus. Für die Supervision und Koordination benötigen wir natürlich Geld. Bisher finanzieren wir diese Arbeit aus Spenden. Es gibt z.B. in Göttingen eine Gruppe von Geschäftsleuten, die das Projekt finanziell unterstützen. Der Verein nimmt gerne Spenden entgegen unter: Bürgerstiftung Göttingen, Nr. 121988, Sparkasse Göttingen, BLZ 260 500 01, Stichwort: Zeit für ein Kind

Ihlenfeldt: Gibt es Reaktionen auf das Projekt?

Streeck-Fischer: Inzwischen haben sich in Hann-Münden und Holzminden Initiativen gebildet, die in Orientierung an unserem Projekt ebenfalls ein solcher Patenschaftsprojekt entwickelt haben. Anfragen aus anderen Städten liegen vor. Es gibt auch ein wissenschaftliches Interesse an unserer Arbeit. Inzwischen werden erste Seminararbeiten von Studentinnen über unser Projekt geschrieben.

Ihlenfeldt: An wen können sich Eltern, Paten oder Lehrerinnen wenden, die weitere Informationen haben oder vielleicht mitarbeiten möchten?

Gebauer: Interessenten können sich an die Geschäftsführerin der Bürgerstiftung, Frau Elke Lahmann, wenden:

Bürgerstiftung Göttingen
ZEIT FÜR EIN KIND e.V.
Robert-Koch-Str. 2
37075 Göttingen
T. 0551- 54 713 26
E-Mail: buergerstiftung-goe@gmx.de

Ihlenfeld: Frau Dr. Streeck-Fischer, Herr Dr. Gebauer, ich danke Ihnen für das Gespräch.

ZEIT online: Warum schweigen Mobbing-Opfer?

Erschienen am 7. Juni 2010, ZEIT online.

Oft werden Mobbing-Erlebnisse von Erwachsenen als alterstypische Rangeleien abgetan. Der ehemalige Schulleiter Karl Gebauer erklärt, wie man unterscheidet und erkennt. 

Für das Schweigen von Mobbing-Opfern gibt es viele Gründe. Eine Ursache liegt darin, dass die Signale der Opfer von Erwachsenen oft nicht richtig gedeutet werden und das Kind sich nicht verstanden fühlt. „Ich habe euch doch immer davon erzählt“, sagt ein 15jähriger zu seinen Eltern, die aus allen Wolken fallen, als ich mit ihnen über die Leiden ihres Sohnes spreche.

Mobbing ist ein aggressiver Akt und bedeutet, dass ein Schüler oder eine Schülerin über einen längeren Zeitraum von Mitschülern belästigt, schikaniert oder ausgegrenzt wird. Mobbing kann sich andeuten, wenn zum Beispiel Hefte und andere Materialien verschwinden, Schulsachen oder das Fahrrad beschädigt werden oder wenn Gerüchte verbreitet werden.

Es kommt vor, dass ein Schüler oder eine Schülerin nicht bei Gruppenarbeiten mitmachen darf oder man verbietet dem Opfer, sich aktiv am Unterricht zu beteiligen. Unter Jugendlichen kommt es zu sexuellen Diffamierungen. Demütigungen erfolgen mit Worten und Zeichnungen auf Zetteln, in Schülerzeitungen und in Briefen. Oft werden Opfer in demütigende Situationen gebracht und dabei mit dem Handy fotografiert. Anschließend werden die Szenen gemeinsam angeschaut, als E-Mail verschickt oder gar ins Internet gestellt.

Wenn dem Täter, also dem Initiator des Mobbings, kein Widerstand entgegengesetzt wird, sein Handeln sogar von Mitschülern toleriert und von einigen sogar unterstützt wird, dann kann seine Machtentfaltung grenzenlos werden. Kinder, die sich mit dem Mobbingopfer solidarisieren, werden unter Druck gesetzt, es kommt auch zu körperlichen Übergriffen. Das alles könnte wahrgenommen werden. Warum kann sich das vor den Augen der Lehrkräfte und auch der Schulleitung abspielen, ohne dass von deren Seite hilfreiche Interventionen erfolgen?

Quelle: http://www.zeit.de/gesellschaft/familie/2010-06/mobbing-gebauer