KOLLEGIALE UNTERSTÜTZUNG ALS ANTWORT AUF KRISENSITUATIONEN IN DER SCHULE

Foto: Stephanie Hofschlaeger / pixelio.de

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„Ich weiß wirklich nicht, was ich da noch machen kann,“ diesen Satz sagt ein Lehrer, im Rahmen einer Fortbildungsveranstaltung zum Thema „Belastungen im Lehrerberuf. Drei Tage arbeitete ich mit ihnen nach unterschiedlichen Methoden am Problemfeld Belastungen. „Eigentlich habe ich alles versucht, den Durchblick zu behalten, habe mit einer Kollegin über die Situation in der Klasse gesprochen. 30 Kinder sind einfach zu viel. Es geht nichts mehr. Ich weiß nicht mehr weiter.“ Das sind die einleitenden Worte von Bernd Henze, so nenne ich ihn, der seit vielen Jahren mit Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe I arbeitet. Beim gemeinsamen Frühstück waren wir miteinander ins Gespräch gekommen. Seine beiden Söhne seien 12 und 17 Jahre alt, hatte ich erfahren, da gab es schnell persönliche Anknüpfungspunkte. Er hatte einen offenen Gesichtsausdruck, seine Augen funkelten, wenn er von seinen Kindern erzählte. In der Arbeitsgruppe sah er bleich aus, wirkte sehr ernst und nachdenklich. Er formulierte langsam: „Da gibt es die Störer, die keine Regeln beachten, einige kloppen sich, passen nicht auf. Es sind eben Schüler mit Verhaltensproblemen, natürlich kenne ich die familiären Hintergründe. Dann gibt es die arbeitswilligen Schüler, aber die kriegen kein Bein auf den Boden. Mir geht es nicht anders. Ich bin – war -sagt er einschränkend, „gerne Lehrer. Aber ich schaffe meine Arbeit nicht mehr.“

So oder so ähnlich klagen viele Lehrer in unserem Land. Sie stoßen damit auf wenig Verständnis.

Aus der großen Studie von Schaarschmidt über Stress wissen wir, dass sich hinter der Bezeichnung Lehrerstress sehr Unterschiedliches verbergen kann. Die erlebte Belastung ist nicht nur von Rahmenbedingungen wie große Klassen, viele Unterrichtsstunden, auffällige Schüler abhängig, sondern auch von der Art der Bearbeitung der erlebten Belastungssituation. Zu Klärung dieser Problematik hat er vier Muster an Bewältigungsstrategien herausgefunden. Verkürzt und nur auf die Situation in Niedersachsen bezogen bedeutet dies: 13 Prozent der befragten niedersächsischen Lehrerinnen und Lehrer balancieren ihre Situation aus. 25 Prozent verdrängen sie. 27 Prozent versuchen durch übersteigertes Engagement die Alltagsprobleme zu lösen und 35 Prozent erleben sich als hilflos und ohnmächtig und werden früher oder später genau wie die 27 Prozent der hoch engagierten Lehrer in der Gefahr sein, dem Burnout-Syndrom zu erliegen (Schaarschmidt, 2001). Es sind vor allem verhaltensauffällige Schülerinnen und Schüler, die den Lehrern zu schaffen machen

Es gibt mehrere Dilemmata:

  • Lehrer und Lehrerinnen sind nicht angemessen auf die Anforderungen ihres Berufes vorbereitet worden. Die Erziehungswissenschaft, von wenigen Ausnahmen abgesehen, hat die Erziehungs- und Bildungsprobleme der Gegenwart nicht im Blick, hat sie daher nicht angemessen analysiert und für die Praxis zugänglich gemacht. Sie hat es versäumt, den interdisziplinären Diskurs zu pflegen.
  • Die Phase während des Referendariats ist überwiegend auf didaktisch-methodische Überlegungen zum Unterricht ausgerichtet und wird nicht für eine breite Problemanalyse des Arbeitsfeldes genutzt. Zum Aufbau von Ressourcen für den erfolgreichen Umgang mit potentiellen Belastungen gibt es in der Regel keine Anregungen.
  • Es gibt nur wenige Kollegien, die eine eigene Initiative zur Bearbeitung von Stress entwickeln, zum Beispiel eine entsprechende Arbeitsgruppe gründen und nach Erfolg versprechenden Methoden verfahren ( TZI, Supervision).
  • Die Erfahrung des potentiellen oder vollständigen Versagens wird von den Betroffenen oft nur auf die eigene Person bezogen. Es sind keine Energien vorhanden für eine erfolgreiche aktive Auseinandersetzung unter Einbeziehung gesellschaftlicher Hintergründe.
  • Die fehlende Grundlage zur Ausübung dieses sehr komplexen Berufes führt sehr schnell zu diffusen Erlebniszuständen. Die Diskrepanz zwischen eigenen Erwartungen und den zunehmenden Anforderungen wird immer größer. Die Probleme erscheinen unlösbar, es besteht die große Gefahr, dass nach einer Phase der Resignation Verzweiflung eintritt. Oft folgt die Aufgabe des Berufes.
  • Lehrer und Lehrerinnen artikulieren sich nicht angemessen, d. h. sie müssten deutlich und kompetent auf die veränderten Lern- und Verhaltensweisen von Schülern und Schülerinnen hinweisen.
  • Lehrer und Lehrerinnen haben keine Fürsprecher. Ihre Verbände scheinen die Grundproblematik ihres Arbeitsfeldes nicht angemessen zum Ausdruck zu bringen.
  • Dass Lehrer zu Prügelknaben werden konnten, hat u. a. auch damit zu tun, dass viele Erwachsene sehr negative Erinnerungen an die eigene Schulzeit haben. Unverarbeitete negative individuelle Erlebnisse mit Lehrern werden oft auf die nachfolgende Generation übertragen (Gebauer/Hüther, 2002).

Vertrauensbildung / Glaubwürdigkeit

Wir leben in einer Zeit und in einer gesellschaftliche Situation, in der die dringend erforderliche Kommunikation zwischen allen, die für Erziehung und Bildung Verantwortung tragen, brüchig geworden ist.

Für eine erfolgreiche Änderung dieser Situation wäre ein umfassender Diskurs über das Menschenbild, das im Mittelpunkt aller Erziehungs- und Bildungsbemühungen stehen sollte, erforderlich. Es müsste mindestens der in den Schulgesetzen formulierte Bildungsauftrag der Schule ernst genommen werden: Persönlichkeitsentwicklung, Entwicklung sozialer Fähigkeiten und Vermittlung von Sachinhalten. Vor diesem Hintergrund müssen wir über die Ursachen und die Zunahme von Konzentrations-, Lern- und Verhaltensproblemen unter Kindern und Jugendlichen nachdenken. Dabei sind interdisziplinäre Anstrengungen nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der Politik erforderlich. Aktuelle Studien haben deutlich gemacht, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen der familiären Situation und dem Bildungsniveau eines Menschen gibt (Pisa-Studie,2002; Shell-Jugendstudie,2002; Dornes, 2000). Daraus folgt, dass Familien-, Bildungs- Wirtschafts-, Innen-, Gesundheits-, Außen- und Zukunftspolitiker über Bildung einen interpolitischen Diskurs führen müssten.

Konstruktive Formen des Umgangs mit Belastungssituationen

Viele Probleme, die Lehrerinnen und Lehrern heute zu schaffen machen, könnten besser von ihnen gelöst werden, wenn sie bereit und in der Lage wären, im Team konstruktive Formen der Lösung zu suchen. Was macht die Arbeit in Lehrerteams so schwer? Woran scheitern so viele Lehrerinnen und Lehrer, die einmal mit einem guten Vorsatz Teamarbeit begonnen haben?

Es ist, deswegen so schwer, weil viele Lehrer und Lehrerinnen ihre eigene Emotionalität nicht oder nur sehr verhalten zum Gegenstand der gemeinsamen Reflexion machen. Dafür haben sie Gründe, die ich nachvollziehen kann. In zahlreichen Einzelgesprächen mit Lehrern und Lehrerinnen ist mir oft gesagt worden, dass eine emotionale Öffnung immer wieder mit Enttäuschungen endete. Eine Folge dieser Erfahrung war in aller Regel ein Abbruch von Gesprächen und damit ein Verzicht auf gemeinsame Problemlösungen. Damit ist die einzelne Lehrkraft wieder auf sich selbst gestellt. Das ist, wie neuere Untersuchungen zeigen, in hohem Maße gefährlich. Einige Jahre ist die hohe Belastung des Lehrerberufes auszuhalten, aber dann stellen sich, wenn man nicht über Entlastungsstrategien verfügt, körperliche Symptome ein.

Stress und Emotionen

In belastenden Situationen spüren die Betroffenen Unsicherheit, Hilflosigkeit, Wut, Ärger, Enttäuschung, Angst und Scham. Oft werden diese Gefühle so stark erlebt, dass sie mehr und mehr das Gesamtempfinden beeinflussen und die Handlungsfähigkeit in einschränken oder unmöglich machen.

Über modifizierten Formen der systemischen Psychotherapie können Lehrerinnen und Lehrer belastende Situationen bearbeiten. Sie ermöglichen es, die äußeren und inneren Abläufe über Interpretationsversuche zu verstehen und die hinter den Aktionen liegende Bedeutsamkeit zu erkennen. Dabei wächst das Interesse an der Klärung der Situation. Verstehbarkeit schließt auch das emotionale Aushalten einer Situation ein. Mit der Zunahme von Erkenntnis wächst die Handlungsfähigkeit. Daraus entstehen Sicherheit und Gelassenheit. Über die so gewonnene Handlungsfähigkeit entwickelt sich neue Energie. Es kann dann auch das Gefühl von Freude am Beruf aufkommen.

Stress als Alptraum oder Auslöser für neues Handeln

Gestützt wird diese Hypothese durch neuere Erkenntnisse der Hirnforschung. Es ist bekannt, welche biochemischen Prozesse in Stresssituationen ablaufen (Hüther, 1997). Sie haben primär eine „Schadensbegrenzende Funktion im Sinne einer Notfallreaktion“. Hinter dieser vordergründigen Funktion verbirgt sich jedoch eine zweite Funktion, die durch die vermehrte Ausschüttung von Noradrenalin dazu führt, dass es in unserem plastischen und lernfähigen Gehirn zu einem Aus- und Umbau von neuronalen und synaptischen Verschaltungen kommt. Unser Gehirn ist bereits aktiv und sucht nach neuen Wegen, wo wir noch in einer Sackgasse stecken. (Hüther, 1999, S.1O/11) Gleichzeitig stiften die Untersuchungen von Hüther Hoffnung, denn er zeigt, welche Chancen in der Bewältigung unkontrollierbarer Stresssituationen liegen. Sie müssen nicht zu Alpträumen führen, sondern können den Anfang für neues Handeln darstellen. „Erst wenn eine Person sich mit all ihren bisher erworbenen Strategien außerstande sieht, eine psychische Belastung zu meistern, stellt sich ein Gefühl völliger Ohnmacht und Hilflosigkeit ein, das mit einer tief greifenden und lang anhaltenden, unkontrollierbaren neuroendokrinen Stressreaktion einhergeht. Vor allem durch die Wirkung des dabei vermehrt ausgeschütteten Stresshormons Cortisol auf Nerven und Gliazellen im Zentralnervensystem kommt es zur Destabilisierung der im Gehirn bereits etablierten Verschaltungen. Bisher erfolgreich eingeschlagene und gebahnte Bewältigungsstrategien werden allmählich aufgelöst.

Sowohl kontrollierbare als auch unkontrollierbare psychische Belastungen sind somit entscheidend an der Herausbildung der unser Denken, Fühlen und Handeln bestimmenden neuronalen Verschaltungen beteiligt.

Ohne kontrollierbaren Stress könnten wir keine Erfahrungen in unserem Gedächtnis verankern, und ohne unkontrollierbaren Stress hätten wir keinerlei Chance, die alten, eingefahrenen Bahnen unseres Denkens zu verlassen und nach neuen Wegen und Lösungsmöglichkeiten zu suchen, um Angst und Stress zu bewältigen. Nur wenn wir die nicht finden, oder wenn wir nicht bereit oder unfähig sind, danach zu suchen, wird der Stress zu einem Alptraum werden und auch uns früher oder später krank machen.“ (Hüther, 1999, S.11)

Stresslandschaft

Wenn man sich mit Stresssituationen beschäftigt, ist es sinnvoll hinter den unzähligen Einzelerscheinungen von Stress nach einer Struktur Ausschau zu halten. Dabei kann ein Vorgehen nach der Methode des Mind Mapping (Hertlein) hilfreich sein. Ich werde einige dieser Wege und Verzweigungen kurz erläutern.

Verlaufsformen

Stresssituationen können kontrolliert oder unkontrolliert ablaufen. Da gibt es die belastende Situation, die nur kurze Zeit dauert, die man noch anhalten, kontrollieren kann und für die man eine Lösung findet. Sie ist gekennzeichnet, durch eine kurzfristige Unsicherheit. Oft ist sie auch verbunden mit Angst, weil man vor einem Problem steht, dessen Lösung zunächst nicht in Sicht ist. Kann man das Problem als Herausforderung annehmen und daran arbeiten und reichen die bisherigen Erfahrungen für eine konstruktive Bearbeitung aus, dann stellt sich nach der Bewältigung dieser Situation ein Gefühl von Selbstvertrauen, Zuversicht und vielleicht auch Freude ein. Es findet eine Umwandlung der Gefühle statt. Aus Angst wird Zuversicht, aus Unsicherheit wird Mut, aus Hilflosigkeit wird Motivation. Das Gefühl hilflos zu sein, wandelt sich in das Verlangen, tatkräftig nach einer Lösung zu suchen. Wir spüren neue Energie, die uns befähigt unsere Lösungsperspektiven aktiv umzusetzen.

Anders sieht es mit unkontrollierbar ablaufenden Stresssituationen aus. Plötzlich spüren wir immer deutlicher, dass wir mit den Belastungen des Alltags nicht mehr zurechtkommen. Oft ist es zunächst nur ein diffuses Gefühl, es nicht mehr zu schaffen. Manche Lehrkräfte neigen dazu, diese Gefühle zur Seite zu schieben. Man möchte sie nicht wahrhaben, wird dann aber schnell wieder von ihnen eingeholt. Die Ereignisse eins Vormittags lassen uns auch am Nachmittag nicht los, sie begleiten uns auch bei Kino- oder Theaterbesuchen und verfolgen uns oft noch in unseren Träumen. Am nächsten Morgen fühlen wird uns zerschlagen, müde und oft wie gelähmt. Wir ahnen, dass etwas passieren muss, wenn wir nicht in Resignation oder Aggression verfallen wollen. Gelingt es nicht, diese unkontrollierbare Stresssituation zu bearbeiten, dann wird aus Angst Verzweiflung, Ohnmacht und Hilflosigkeit. Unser Selbstvertrauen schwindet, uns verlässt der Mut, wir fühlen uns elend unglücklich.

In solchen Situationen ist es wichtig, einen Menschen oder ein Team zu haben, mit dem man als Betroffener an einer Lösung arbeiten kann.

Stressart

Bei der Auseinandersetzung mit belastenden Situationen ist eine Vergewisserung hilfreich, die danach fragt, wie lange eine Stresssituation andauert und wie intensiv sie ist. Wichtig kann auch die Menge der Belastungen sein. In der Schule sind wir oft sehr intensiven Belastungen ausgesetzt. Das trifft besonders dann zu, wenn uns Schüler herausfordern. Wenn sie die Machtfrage stellen, sich über unsere Anweisungen lustig machen, keine Regeln beachten oder so tun, als seien wir für sie Luft. Wenn sich solche Verhaltensweisen wiederholen, dann kommt zur Intensität auch noch die Quantität. Gerade Wiederholungsprobleme, aus denen es keinen Ausweg zu geben scheint, können uns das Leben in der Schule zur Hölle machen. Wenn die Belastungen anwachsen und die normalen Anforderungen weit übersteigen, dann kann dies in eine Stresssituation führen. Je größer die Grundbelastung ist, desto geringer ist die Pufferkapazität mit der es uns sonst gelingt, Stress abzuwehren.

Stressbewertung

Die Intensität eines Stresserlebnisses hängt entscheidend von der Bewertung durch den Betroffenen ab. Eine Situation kann für die eine Lehrkraft eine Herausforderung bedeuten, die sie motiviert, nach neuen Wegen zu suchen. Dieselbe Situation kann aufgrund einer anderen Bewertung eine Lehrerin in die Resignation führen. Dies hängt sehr eng mit den bisherigen Erfahrungen zusammen und mit den dadurch aufgebauten neuronalen Strukturen unseres Gehirns.

Stresstypen

Scharschmidt geht in seiner Untersuchung von 4 Typen aus. In leichter Abwandlung seiner Begriffe spreche ich von den Ohnmächtigen, die in seiner Untersuchung 3O % ausmachen. 13 % gehören zu denen, die die Belastungen ignorieren oder verdrängen. Ich nenne sie die Verdränger. 4O% bemühen sich intensiv, um mit ihren Belastungen besser umgehen zu können. Sie suchen über Fortbildungsangebote eine bessere Qualifikation zu erreichen und hoffen dann auch besser auf Stresssituationen reagieren zu können. Da sie den emotionalen Bereich weitgehend aussparen, nenne ich sie die Macher. 15% der Teilnehmer sind in der Lage, auch mit belastenden Situationen angemessen umzugehen. Ich nenne sie die Balancierer.

Diese Ergebnisse Untersuchung machen deutlich, dass die Einbeziehung der Emotionen eklatant von den Betroffenen vernachlässigt worden ist.

Stresskompetenz

Was zeichnet die Menschen aus, die mit belastenden Situationen konstruktiv umgehen können? Sie sind in der Lage, komplexe Belastungen zu entwirren, zu interpretieren. Sie verfügen über Methoden und Arbeitsformen der Stressbearbeitung. Innerhalb ihrer Arbeitsprozesses suchen sie nach der Bedeutung der Belastung für die Selbst- und Sozialentwicklung. Dabei bewegen sie sich auch auf der emotionalen Ebene. Ihr Interpretationsverfahren läuft nicht nur kognitiv ab, es bezieht die Gefühle der beteiligten Personen mit ein. Sie schaffen sich über ihr kognitiv- emotionales Interesse Grundlagen auf denen sie handlungsfähig werden und bleiben.

Stressbearbeitung

Da Stresserlebnisse eng zusammenhängen mit der Stressbewertung durch die Betroffenen, ist auch eine Bewältigung von Stresssituationen an individuellen Möglichkeiten gebunden. Es bleibt also prinzipiell offen, welche Lösungswege eine Person sucht und welche Lösungswege sie einschlägt. Dabei können Partner, Freunde und Kollegen hilfreich sein. Aktive Entspannungsmethoden können helfen, wenn es darum geht, Grundalgen dafür zu schaffen, dass konstruktive Stressbearbeitung überhaupt stattfinden kann

Dann kommt es aber darauf an, mit geeigneten Methoden an den Stressphänomen zu arbeiten, z.B.: Arbeit mit inneren Bildern, unterschiedliche Dramatisierungsformen von Stresssituationen (Rollenspiel, Stressdrama), das Quantifizieren der Belastung, einen hilfreichen Namen finden, Klärungsdialoge, Zirkuläres Fragen und das assoziativ-reflexive Erinnern. In der Praxis kommt es oft auf eine Kombination der unterschiedlichen Methoden an.

Modell eines Verarbeitungssystems

Sofern wir uns gegenüber eine emotionale Achtsamkeit an den Tag legen, zeigen uns unsre Gefühle sehr deutlich, wann wir an unsere Grenzen stoßen. Es ist dann wichtig, diese Gefühle, wie sie sich auch immer anfühlen mögen, nicht zu verdrängen, sondern an ihnen zu arbeiten. Dabei sind Methoden hilfreich, die unsere Emotionen in diesen Prozess einbeziehen. Eine nur kognitive Bearbeitung führt nicht weiter. Bei längerer Nichtbeachtung kann dies zu psychosomatischen Beschwerden führen. Bei Lehrern und Lehrerinnen führt ein solches Verhalten oft in die Resignation. Werden nun aber Formen der konstruktiven Bearbeitung gewählt, so kann dies zu einer neuen Handlungsfähigkeit führen.

Interne Orientierungen

Welche Möglichkeiten gibt es innerhalb eines Kollegiums oder einer Gruppe dem gegenwärtigen Dilemma zu begegnen? Was bringt Lehrerinnen und Erzieherinnen gelegentlich ins Schleudern? Wie und durch wen finden sie ihre Orientierung bei der täglichen Arbeit. Was ist, wenn sie plötzlich aus der Routine herausfallen, weil da einige Kinder immer wieder den Unterricht stören, wenn ihre Schülerinnen und Schüler trotz größter Anstrengung die Lerninhalte nicht verstehen und behalten können? Was ist, wenn die Situation unüberschaubar wird, obwohl sie alles tun, um den Durchblick zu behalten?

Es gibt nicht den Weg, der aus den skizzierten Dilemmata herausführen würde. Trampelpfade wären von verschiedensten Stellen, Institutionen und Personen anzulegen.

Ich will skizzieren, welche Vorgehensweisen meine Kolleginnen und ich gewählt haben:

Verhinderung oder Minimierung von Stress

  • Methodenorientierte, kontinuierliche Teamarbeit
  • Wahrnehmen und Benennen von Problemen, Analysieren und Interpretieren (Hirnforschung, Psychoanalyse, Säuglings- und Bindungsforschung, Entwicklungs- und Systemische Psychologie)
  • Stärkung der individuellen Kompetenz und der Arbeitskompetenz der Gruppenmitglieder
  • Gegenseitige Offenheit, Hospitationen
  • Einbeziehung der emotionalen Komponente in den Arbeits- und Reflexionsprozess
  • Zulassen vielfältiger Interpretationsmöglichkeiten
  • Überlegungen zur Qualitätsverbesserung des Unterrichts
  • Vergewisserungen (interne Evaluation)
  • Emotionale Sicherheit als Schulkonzept für alle in der Schule tätigen Personen
  • Auseinandersetzung mit bildungspolitischen Entwicklungen

(Gebauer: Stress bei Lehrern, Verlag Klett Cotta, 2000):

Beispiel: „Ich weiß wirklich nicht, was ich da noch machen kann.“

Zu Beginn meiner Ausführungen hatte ich von dem Lehrer Bernd Henze gesprochen, der seine Situation des Scheiterns in einer Gruppe thematisierte. Er sagte, er sei gern Lehrer gewesen. Dieser Beruf muss einmal Sinn gemacht haben für ihn. Heute ist er sich nicht mehr so sicher.

Hier ist es zunächst erforderlich, gemeinsam die geschilderte Situation in einer größeren Zusammenhang zu stellen und die Kompetenz einer Gruppe bei der Suche nach neuer Orientierung zu nutzen, gemeinsam mit ihm die Problematik genauer zu erfassen und eine Grundlage für künftiges Handeln zu entwickeln.

Eine Möglichkeit sahen wir im zirkulären Erfassen seines Problemfeldes. Wir wollten möglichst alle Variablen, die bei der Klärung des Problems eine Rolle spielen könnten, erfassen und im Anschluss nach Lösungen, nach einer neuen Orientierung und Handlungsfähigkeit suchen.

Zusammen mit der Gruppe entwarf ich eine Problemlandschaft. Gesichtspunkte für Suchbewegungen waren:

  • Pädagogisches Konzept des Klassenteams,
  • Lernstände der Schüler
  • Konfliktklärung
  • Gespräche mit Eltern
  • Lehrer-Schüler-Beziehung
  • Dynamik in der Klasse (vgl. Skizze 1).
Skizze 1

Skizze 1

So sieht die Problemeröffnung aus. Im Bild gesprochen legen wir Wege in einer Problemlandschaft an. Sie bieten erste Orientierungen.

Vier Arbeitsgruppen bilden sich, d. h. sie begehen die Wege, suchen Seitenwege, begeben sich auf Entdeckungsgänge. Ihre Themen lauten:

  1. Verhältnis der Lehrkräfte dieser Klasse zueinander, ihr Beziehungsgefüge; ihr pädagogisches Konzept
  2. Dynamik in der Schulklasse; Bearbeitung über die Methode der Aufstellung von Schüler-Lehrerbeziehungen.
  3. Raumgestaltung, Sitzordnung, Feste, Rituale
  4. Perspektiven; Klärung der Atmosphäre und Entwicklung neuer methodischer Arbeitsformen, z. B. Arbeit mit inneren Bildern (vgl. Skizze 2).
Skizze 2

Skizze 2

Irgendwo in diesem Fragehorizont könnte ein Ansatzpunkt für eine neue Orientierung liegen. Die Teilnehmer gehen gleichsam mit ihrem Kollegen Henze in die einzelnen Wege und ihre Verzweigungen hinein, machen etwas sichtbar, das er ohne ihre Hilfe nicht sehen konnte.

Ergebnis der Arbeit:

Es fand ein lebendiger Gedankenaustausch statt. Keiner hatte den Anspruch, zu Beginn schon die Lösung zu kennen.

Für die Gruppenarbeit benötigten wir zwei Arbeitsstunden. In einer weiteren Stunde wurde im Plenum über die Ergebnisse gesprochen.

Bernd Henze hörte gespannt zu, macht sich Notizen, nickte mit dem Kopf. Er sei zufrieden mit dem Ergebnis. Er habe viele Anregungen erhalten, Perspektiven hätten sich für ihn ergeben, er sehe etwas optimistischer in die Zukunft. Er habe jedenfalls Anhaltspunkte dafür, wie es weitergehen könne. Erste Orientierungen für neue Wege im pädagogischen Handeln.

Beispiel: „Kann ich noch Lehrerin sein?“

Diesen Satz sagt eine Lehrerin bei einer anderen Veranstaltung, an der ein Kollegium geschlossen teilnahm. Im Rahmen eines Vergewisserungsprozesses geht es um die Frage, wie sich die einzelnen Mitglieder des Kollegiums in ihrer Klasse fühlen. Als Bearbeitungsform wurde die Methode der reflexiven Assoziationen gewählt. Das Wort „reflexiv“ bezeichnet die gelenkte Hinwendung zu einem eingegrenzten Thema. In diesem Fall geht es um das Grundgefühl in der eigenen Klasse. Mit dem Wort Assoziationen sind in diesem Zusammenhang alle Wahrnehmungen und Empfindungen gemeint, die sich einstellen, wenn die einzelnen Teilnehmer den Anregungen der Moderatorin folgen. Am Ende soll jede Teilnehmerin für sich den inneren Satz formulieren:

„Ich fühle mich….“ Oder: „Mir geht es….“ Danach haben alle Mitglieder der Runde die Möglichkeit, ihr Gefühl den anderen mitzuteilen.

Die Kollegin Bergner berichtet zunächst sachlich über die Zusammensetzung ihrer Klasse und über grundsätzliche Lernprobleme einzelner Kinder. Sie verfällt ins Reflektieren, meint, sie habe eventuell nicht alle Inhalte in der gebotenen Genauigkeit mit den Kindern bearbeitet, so dass darin möglicherweise auch Ursachen für die Probleme einzelner Kinder liegen könnten. Auch emotional sei es nicht leicht in der Klasse. Es seien vor allem vier Jungen, die ihr zu schaffen machten. Sie unterbricht ihren Bericht, schweigt, wirkt sehr nachdenklich und formuliert dann: „Mein Grundgefühl sagt mir, ich sollte aufhören, Lehrerin zu sein. Die Probleme tauchen immer wieder auf. Und es wird immer schlimmer.“

Die Moderatorin fragt, was sie sich von der Gruppe wünsche.

„Ich wünsche mir Sicherheit auf der Sachebene und auf der emotionalen Ebene. Ich wünsche mir auch Sicherheit im Auftreten gegenüber den Eltern. Ich wünsche mir keine Ratschläge von euch. Ich möchte lieber mit euch gemeinsam darüber reden, wie ich wieder Sicherheit gewinnen kann.“

Frau Bergner erzählt noch, wie sie von einzelnen Schülern regelrecht fertiggemacht würde. Es herrsche teilweise ein großes Chaos in der Klasse. Die Kinder machten kaum Lernfortschritte. Am meisten aber belaste sie, dass sie als Person nicht ernst genommen würde. „Ich möchte ernst genommen werden, das ist mein Ziel, und ich muss mich selbst ernst nehmen. Beides gehört zusammen. Aber ich kann mich nicht mehr ernst nehmen, wenn zum Beispiel Eltern bei mir anrufen und sich über meine Unfähigkeit beschweren. Sie haben ja Recht, nur ihre Form ist sehr beleidigend.“

Assoziationsrunde:

Die Teilnehmer reflektieren die geschilderte Situation und berichten kurz über ihre Assoziationen:

  • „Ich kenne solche Situationen, habe es bisher geschafft, da herauszukommen. Es ist ein andauernder Prozess.“
  • „Ich habe ein Bild vor Augen. Ich sehe dich durchs Moor gehen. Du kannst jeden Augenblick einbrechen.
  • Ich will nichts schön reden. Ich empfinde eine ungeheure Schwere.“
  • „Ich fühle mich leer und bewegungslos. Dein Bericht hat mich runtergezogen. Ich habe keine Idee für eine Lösung.“
  • „Ich will selbst noch etwas sagen. Mich haben meine Reflexionen und mein Sprechen darüber tiefer reingezogen als ich gedacht habe. Das hat mich überrascht. Ich wollte die Schwere überspringen, das war ganz deutlich, aber dann habe ich mich doch dafür entschieden, bei der Schwere zu bleiben. Es ist einfach ungeheuerlich, wenn mir ein Schüler einfach das Heft aus der Hand nimmt.“

„Wenn ich mit dem Unterricht beginne, ruft er etwas in die Klasse. Dann lachen einige Schüler und Schülerinnen. Wenn das passiert, verliere ich meine Spur. Es kommt zum Machtkampf zwischen ihm und mir. Und ich ziehe den kürzeren. Warum kann sich ein Schüler bei mir erlauben, während meines Unterrichts zu essen? Was gebe ich für ein Signal, dass er sich das erlaubt und auch nicht aufhört, wenn ich ihn dazu auffordere und dann auch noch einige Mitschüler auf seiner Seite hat? – Ich fühle mich hilflos. Das ist schwer auszuhalten.“

Interpretation: Im erzählenden Reflektieren bei einer zugewandten Gruppe mit einer erfahrenen und verantwortungsbewussten Moderatorin ereignen sich wichtige Erlebnis und Erkenntnisprozesse. Es bleibt nicht bei der reinen Mitteilung eines Geschehens und es bleibt auch nicht bei einer rein sachlichen Rezeption durch die Teilnehmer. Gefühle sind im Spiel und bestimmen den Ablauf. Erleben, Reflektieren und die Suche nach Perspektiven sind im Erfahrungsprozess miteinander verknüpft. Die Moderatorin lenkt das weitere Verfahren auf eine emotionale Vertiefung durch ein Rollenspiel.

Rollenspiel als Methode der Vertiefung:

Einige Kolleginnen übernehmen Rollen von Kindern, die der Kollegin Bergner besonders zu schaffen machen. Eine Kollegin übernimmt die Rolle von Frau Bergner. Im Rollenspiel entwickelt sich eine muntere Atmosphäre. Die Darstellerinnen der Schüler haben offensichtlich großen Spaß. Sie werden von der Lehrerin ruhig und sachlich auf die geltenden „Spielregeln“ hingewiesen.

Die entscheidenden Sätze, die in einem umfangreichen Spielgeschehen fallen lauten:

1. Schüler: „Ich will, dass es auch mal lustig zugeht. Frau Bergner ist immer so ernst. Das macht doch keinen Spaß.“

2. Schüler: „Wenn ich einen Witz mache, dann weiß ich, dass die anderen lachen. Das ist ein gutes Gefühl und in der Klasse ist eine tolle Stimmung.“

Lehrerin: „Ich finde das auch witzig, was ihr macht, aber nun müsst ihr auch wieder die Regeln beachten, damit alle gut lernen können.

Mitteilung von Gefühlen: Nach dem Spiel werden die Spieler, die Zuschauer und auch die Problemstellerin nach ihrem Gefühl gefragt:

Die Kolleginnen, die in die Rolle der Schüler geschlüpft waren, berichten, dass es ihnen großen Spaß gemacht habe. Mitleid mit ihrer Lehrerin hätten sie nicht gehabt. Warum soll man denn nicht einmal Spaß haben, das sei ihr überwiegendes Gefühl gewesen. Ein schlechtes Gewissen hätten sie auch nicht gehabt.

Die Kollegin, die Frau Bergners Rolle gespielt hat, teilt mit, dass ihr das Schülerverhalten zwar nicht gepasst habe, aber eine Verunsicherung habe sie nicht gespürt. Sie sei sich ganz sicher, dass ihr Hinweis auf die Regeln in Zukunft beachtet würde.

Die Moderatorin fragt die Problemstellerin, ob sich eine Tür zu einer neuen Erkenntnis geöffnet habe?

Herzklopfen, Angst und ein Gedanke an Flucht habe sie gehabt, sagt Frau Bergner. Tiefe Traurigkeit mache ihre Grundstimmung aus, und die sei ihr im Spiel noch einmal sehr nahe gerückt. Aber stärker noch als dies, und darüber sei sie sehr erstaunt, habe sie die Leichtigkeit, in der die Kolleginnen in ihren Rollen agierten, beeindruckt. Die Identifizierung der Kolleginnen mit den Kindern, das habe ihr die Schwere genommen. „Vielleicht liegt hier eine Lösung für mich: Was können mir die Kinder an Leichtigkeit geben? Was kann ich an Leichtigkeit einbringen?“ Eine erste Orientierung?

Wie ging es weiter?

Es mussten noch viele Erfahrungen des Scheiterns gemacht werden, bis es schließlich Frau Bergner gelang, ihr Verhalten von innen heraus neu zu gestalten. Verhaltensänderungen, die dann auch zu einem erfolgreichen pädagogischen Handeln führen, sind erst dann möglich, wenn unser Gehirn neben den bisher mit festen Verschaltungen angelegten Netzen neue Netzverbindungen so weit etabliert hat, dass sie zunächst als kleine Alternative zu bisherigen Verhaltensweisen zur Verfügung stehen und schließlich zu einer echten und sicheren veränderten Verhaltensweise führen, dass man von einer neuen Vernetzung sprechen kann, die künftig stärker das Verhalten bestimmt als die bisherigen Erfahrungen.

Dieses Wissen und seine Beachtung bei möglichen Verstrickungen mit Schülerverhaltensweisen, ist außerordentlich wichtig für den Gesamterfolg bei der Bearbeitung von Situationen, in denen eine Lehrerin die Orientierung verliert.

Oft denken und fühlen die beteiligten Personen, alle Bemühungen hätten keinen Sinn, weil sich die bekannten Verhaltensweisen nicht änderten. Oft lassen die Veränderungsbemühungen nach, und es tritt Resignation ein, die in Desinteresse oder Aggression umschlagen kann. Die Folgen sind bekannt. Es lohnt sich, solche Prozesse über einen längeren Zeitraum zu verfolgen und auch dann nicht wegzusehen, wenn es scheinbar keine Fortschritte gibt.

Der Weg in die Orientierungslosigkeit kann sehr unterschiedliche Ursachen haben. Für das Finden einer Lösung ist es wichtig, die individuelle Stelle der Verwundbarkeit zu finden. Oft wollen oder dürfen Lehrerinnen/Erzieherinnen nicht wahrhaben, dass die in ihren Augen noch so kleinen Kinder ihnen das antun können. Sie fühlen sich in einer ausweglosen Situation, vor allem, weil sie sich die Zusammenhänge nicht erklären können. In ihrem Gehirn ist dann der Teufel los. Alles geht durcheinander. Oft sind es banale Ereignisse, die einen Lehrer oder eine Erzieherin in eine unkontrollierbare Situation bringen. Es ist dann so, als ob alle Erfahrungen nicht mehr helfen könnten, aus der Situation herauszukommen.

Wie geht es weiter, wenn es nicht mehr weiter zu gehen scheint, wenn alle bisher bewährten Strategien des Denkens, Fühlens und Handelns sich als ungeeignet oder undurchführbar erweisen?

Hier können die vielen in der Kommunikationstheorie und der Psychotherapie und Systemtherapie ausgebildeten Methoden hilfreich sein. Haben wir in unserem bisherigen Erfahrungsschatz Methoden gespeichert, mit denen wir schon andere Stresssituationen erfolgreich bestanden haben, so stehen diese Erfahrungen jetzt zur Verfügung. Sie können nun abgerufen und darauf überprüft werden, ob sie für die Lösung des Problems nutzbar gemacht werden können. Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll, sich unterschiedliche Methoden anzueignen, die dann als Netzwerk für die Lösung neuer Belastungen genutzt werden können.

Abschließend möchte ich noch mitteilen, welche Entwicklung Frau Bergner genommen hat. In der folgenden Zeit haben wir in einem Team von drei Personen an verschiedenen belastenden Situationen mit Frau Bergner gearbeitet. Dabei kamen unterschiedlichen Methoden (Gebauer: Stress bei Lehrern) zur Anwendung. Etwa ein halbes Jahr nachdem Frau Bergner für sich und uns alle unüberhörbar formuliert hatte: „Kann ich noch Lehrerin sein?“, teilte sie uns zu Beginn einer Teamsitzung mit: „Ich möchte euch allen sagen, das es mir gut geht. Ich habe wieder Kraft, die Situationen verschwimmen nicht. Meine Kreativität ist zurückgekehrt. Ich habe wieder Freude an meiner Arbeit. Dass ich wieder so Schule machen kann, das hätte ich nicht gedacht. Ich sehe und erlebe viele Situationen anders als vorher. Ich kann den Kindern den Spaß lassen und gleichzeitig solche Strukturen vorgeben, dass Lernen in einer angemessenen Atmosphäre möglich ist. Ich habe in mir durch die intensive Arbeit ein sehr tief sitzendes Muster entdeckt: ‚Spaß darf es nicht machen, wenn man arbeitet.‘ Ich habe eine Leichtigkeit gewonnen, die ich so noch nicht kannte. Dafür danke ich euch. Ich hoffe, dass ich mir diese Fähigkeit erhalte. Ich muss aufpassen, dass ich nicht wieder abrutsche. Ich weiß, was ich alles kann. Ich habe es mir in den schwierigen Situationen oft aufgezählt. Mein Versagen in bestimmten Situationen hat mich an den Rand meiner Tätigkeit als Lehrerin gebracht. Heute kann ich meine Gefühle und ihre Bedeutung schneller erkennen und einordnen. Ich muss nicht mehr so oft sauer sein und kann mich mit den Kindern freuen. Die Atmosphäre in der Klasse hat sich auch wesentlich verändert. Ich kann die Schüler besser akzeptieren, so wie sie sind. Ich kann mich besser akzeptieren. Natürlich schwingt immer noch Angst mit, dass es wieder umkippen könnte. Aber ich weiß, dass ich von euch Hilfe und Unterstützung bekäme. Das gibt mir eine gewisse Sicherheit und Hoffnung.“

Perspektiven:

Perspektiven in belastenden Situationen ergeben sich nicht von selbst, sie müssen erarbeitet werden. Grundlagen dafür können sein:

  • Vertrauensvolle Teamarbeit
  • Unterschiedliche Entspannungsformen, z.B. Meditation
  • Gespräche mit Lebenspartnern und Freunden
  • Professionelle Hilfe.

Eine Verminderung von Stress tritt überall dort ein, wo es uns gelingt,

emotional tragende Beziehung zu unseren Schülern aufzubauen und ihnen untereinander neue Beziehungserfahrungen zu ermöglichen.

Dabei geht es immer auch um die Beachtung von Emotionalität. Eine wirkliche Chance für kompetentes Verhalten sehe ich in einer Qualifikationserweiterung, bei der die individuelle und die gruppenbezogenen Emotionen eine angemessene Beachtung finden.

Abschließend möchte ich Aspekte eines kompetenten Lehrerverhaltens skizzieren.

  • Kompetentes Verhalten zeigen Lehrerinnen und Lehrer, die ihren Schülerinnen und Schülern eine emotional tragende Beziehung anbieten. Sie ziehen den Beziehungsfaden in ihre Überlegungen mit ein und reflektieren ihre Arbeit nicht nur unter didaktisch-methodischen Gesichtspunkten. Beziehungen sind konstruktiv, wenn sie eine zugewandte emotionale Komponente haben. Voraussetzung dafür ist das Wahrnehmen eigener Gefühle im Wechselspiel mit denen anderer Menschen.
  • Kompetente Lehrerinnen und Lehrer verfügen über Deutungswissen und Interpretationsverfahren. So können sie individuelle und gruppendynamische Verhaltensweisen ihrer Schülerinnen und Schüler verstehen und angemessen handeln.
  • Sie können ihre eigenen Kräfte richtig einschätzen und sich somit auch vor Überforderung schützen. Sie verfügen mindestens über Strategien eines erfolgreichen Umgangs mit Stresssituationen.
  • Ihre Kompetenz zeigen Lehrerinnen und Lehrer nicht nur in der Umsetzung des Bildungsauftrages der Schule. Sie können sich auch gegenüber anderen Arbeitsfeldern (Familiäre Erziehung, Beratungsstellen, Sozialdienst usw.) abgrenzen. Souverän verhalten sie sich, wenn Sie Aufgabenzuschreibungen nicht kritiklos übernehmen, sondern auch zurückweisen und die Institutionen benennen, die für diesen Aufgabenbereich zuständig sind. So sind Lehrerinnen und Lehrer zum Beispiel nicht zuständig für die Fortbildung von Eltern in Erziehungsfragen.
  • Kompetenz von Lehrern und Lehrerinnen zeigt sich auch darin, dass sie sich erfolgreich zur Wehr setzen gegenüber ungerechtfertigten Angriffen von Eltern, Journalisten und Politikern. Versagen in Erziehungs- und Bildungsaufgaben muss dort bearbeitet werden, wo es entsteht und darf nicht auf jeweils andere projiziert werden.
  • Kompetentes Lehrerverhalten zeigt sich vor allem in der Wahrnehmung und Analyse von Verhaltensweisen, die aus frühkindlichem Bindungsmuster resultieren. So ist es möglich, dass sich Lehrkräfte nicht in die Inszenierungen ihrer Schüler und Schülerinnen verstricken lassen. Sie gehen konstruktiv mit Verhaltensweisen um, die aus unsicheren Bindungsmustern entstehen. So eröffnen sie ihren Schülerinnen und Schülern eine Chance, emotionale Sicherheit zu erwerben.
  • Sie regen das Lern- und Sozialverhalten ihrer Schülerinnen und Schüler nicht nur an, sie sind auch Unterstützer und Berater. Die Ergebnisse ihrer Arbeit halten sie fest. Sie stehen einer internen und externen Evaluation ihrer Arbeit positiv gegenüber.
  • Kompetente Lehrkräfte wissen, dass sie nicht nur Vermittler von Lerninhalten sind, sondern dass ihr Verhalten in den unterschiedlichsten Situationen Vorbildcharakter hat. Damit werden sie selbst in ihrem emotionalen, sozialen und kognitiven Habitus zum Inhalt von Lernprozessen.
  • Kompetente Lehrkräfte befinden sich in einem lebenslangen Lernprozess. Sie praktizieren Teamarbeit. Sie wissen und beherzigen, dass ein Gelingen ihrer komplexen Arbeit nur möglich ist, wenn sie sich den Zugang zu ihren Gefühlen offen halten. Sie wissen und beachten, dass emotionale Kompetenz das Fundament erfolgreicher Lernprozesse ist.

Karl Gebauer

Literatur:

Baumert, J. u.a.: Pisa 2000, Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich, Leske + Budrich, Opladen 2001

Brisch, K.H.: Bindungsstörungen. Von der Bindungstheorie zur Therapie. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1999

Deutsche Shell (Hrsg.): Jugend 2002, Fischer Taschenbuchverlag

Dornes, M.: Die emotionale Welt des Kindes, Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt a./M. 2000

Du Bois, Reimar: Jugendkrisen; erkennen, verstehen, helfen, becksche Reihe, C.H. Beck, 2000

Gebauer, K. u.a.: Was ist bloß mit den Kindern los? In: Grundschulzeitschrift, Heft 11, 1991

Gebauer, K.: „Ich hab sie ja nur leicht gewürgt.“ Mit Schulkindern über Gewalt reden, Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1996

Gebauer, K.: Turbulenzen im Klassenzimmer. Emotionales Lernen in der Schule, Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1997

Gebauer, K.: Wenn Kinder auffällig werden – Perspektiven für ratlose Eltern, Verlag Walter, Düsseldorf 2OOO a

Gebauer, K.: Stress bei Lehrern. Probleme im Schulalltag bewältigen. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2OOO b

Gebauer K. / Hüther, G. (Hrsg.): Kinder brauchen Wurzeln, Verlag Walter, Düsseldorf 2001

Gebauer, K.: Die Morde von Erfurt – Pädagogische Überlegungen, in: Religion heute, September 2002

Hüther, G.: Biologie der Angst. Wie aus Stress Gefühle werden, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1997

Hüther, G.: Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2001

Hüther, G. / Bonney, H.: Neues vom Zappelphilipp. Walter Verlag Düsseldorf, 2002

Krause/Fittkau/Fuhr/Thiel (Hrsg.): Pädagogische Beratung, Schöningh, UZB, Paderborn, 2003

Omer Haim/von Schlippe Arist: Autorität ohne Gewalt, Coaching für Eltern von Kindern mit Verhaltensproblemen, Vandenhoeck &Ruprecht, 2002

Redl, F., Wineman, D. (199O): Kinder die hassen. München. 4. Auflage

Rogge, Jan Uwe: Pubertät, Rowohlt, 1998

Schaarschmidt, Uwe / Fischer, Andreas W.: Bewältigungsmuster im Beruf,  Vandenhoeck & Ruprecht (2001)