WIE WERDEN KINDER KLUG?

Foto: Jürgen Hast

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Kinder werden als Entdecker geboren

Kinder müssen fast alles, worauf es im Leben ankommt, durch Erfahrung lernen. Sie werden als Weltentdecker geboren und können erfolgreich sein, wenn sie Lernen als ihre eigene Sache begreifen. Dafür brauchen sie Spiel- und Lernräume, die Entdeckungen ermöglichen. Sie brauchen eine anregende, freundliche und wertschätzende Atmosphäre in der Familie, im Kindergaren und in der Schule. So erfahren sie, dass Lernen Freude macht und stabilisieren damit ihr Motivationssystem.

Druck macht dumm

Viele Eltern sind nach den Ergebnissen der Pisa-Studien stark verunsichert. Sie wollen nichts falsch machen. In vielen Fällen führt dies zu sehr hohen Erwartungen gegenüber ihren Kindern. Überhöhte Ansprüche werden aber als Druck wahrgenommen. Ständige Überforderungen führen zu Stress und in der Folge zu psychosomatischen Beschwerden. Diese können das Lernvermögen und die herbeigesehnten Lernerfolge stark einschränken. Auflösen wird man diesen Teufelkreis, der durch verunsicherte Bildungspolitiker noch verstärkt wird, nur durch Besinnung auf die wichtigen Faktoren, die beim Lernen eine Rolle spielen. Dazu zählen in der frühen Kindheit die Erfahrung von Geborgenheit und Selbstwirksamkeit.

Die Quelle des Lernens

Es kommt darauf an, den Kindern Geborgenheit und damit emotionale Sicherheit zu geben. Über vielfältige Anregungen erhalten sie die Chance, grundlegende Erfahrung ihrer Selbstwirksamkeit zu machen. Damit ist eine Erfahrung gemeint, die sich in dem schlichten Satz ausdrückt: „Ich kann das.“ Zunächst verbindet sich diese Erfahrung mit allen Aktivitäten, die beim kindlichen Spiel vorkommen. Ich kann krabbeln, stehen, laufen, klettern, rennen, Dreirad fahren, mit Wasser und Feuer spielen, mit einem Messer schnitzen, klettern, balancieren, hüpfen und springen, kämpfen, gewinnen und verlieren, Theater spielen, Musik machen, lesen, schreiben, rechnen. Wenn Eltern oder nahe Bezugspersonen diese Lernerlebnisse der Kinder wohlwollend begleiten und durch zustimmende Äußerungen unterstützen, bilden sich im Gehirn der Kinder neuronale Netzwerke aus, in denen nicht nur das motorische Können gespeichert wird, sondern auch die Freude am Können. Sie erfahren auf diese Weise eine Bestätigung und Stärkung ihrer Selbstwirksamkeitserfahrung. Daraus entwickelt sich die für lebenslanges Lernen so notwendige innere Motivation. Hier liegt die Quelle des Lernens. In allen nachfolgenden Prozessen müssen wir darauf achten, dass diese Quelle nicht versiegt. Sie kann durch kein noch so ausgeklügeltes Förderprogramm ersetzt werden. Die Freude am Lernen steht in einem direkten Zusammenhang mit der Erfahrung, dass das eigene Tun auch in den Augen und Ohren anderer Menschen als etwas Wichtiges wahrgenommen wird. Die positive Resonanz, die Kinder erfahren gibt ihnen Sicherheit und bestärkt sie in ihrem Tun.

Ein Bildungsplan als Orientierungsplan

Hilfreich sein kann dabei der Hessische Bildungsplan „Bildung von Anfang an.“ Er basiert auf wissenschaftlichen Grundlagen und enthält viele wertvolle Anregungen für die Praxis. Manchmal werden die Leserinnen und Leser den Eindruck haben, dass man die umfassenden Ziele kaum wird erreichen können.

Deswegen ist es wichtig, dass man aus der Fülle der Anregungen für sich die wichtigsten Teile markiert. Das kann am besten im Team geschehen.

Lernen und Emotionen

Lernen ist eingebettet in soziale Situationen und wird von Emotionen begleitet. Was nach vielen Jahren noch präsent ist oder in der Erinnerung wieder hervorgerufen werden kann, war einst von starken Emotionen begleitet. Oft erinnern wir nicht mehr die konkreten Ereignisse, sondern verbinden mit neuen Anforderungen angenehme oder unangenehme Gefühle. Als Erinnerungsspur bleibt oft nur ein inneres Muster haften, das aber in konkreten Situationen seine Wirksamkeit entfalten kann. Je intensiver wir freudige Ereignisse mit Lernen verbinden, desto selbstbewusster und zielstrebiger werden wird dann auch in der Zukunft an die Lösung von Problemen herangehen.

Lernen findet in einem Zusammenspiel von emotionalen, sozialen und kognitiven Aktivitäten statt. Leider wird das Lernen heute weitgehend mit dem Lernen in schulischen Fächer gleichgesetzt und nur selten in seinen emotionalen und sozialen Dimensionen gesehen. Für erfolgreiches Lernen ist die Erfahrung von vielen komplexen Situationen erforderlich.

Treppen-Mathematik

„Als ich klein war“ erzählt ein heute 35jähriger Vater,“ besuchte ich gerne meinen Opa. Einmal wollten wir ein Spiel vom Dachboden holen. Er nahm mich an die Hand und ging mit mir die Treppe hinauf. Dabei sollte ich jede Stufe zählen. 21 Stufen waren es. Ich weiß es noch wie heute. Ob es wohl nach unten genau so viele Stufen wären, wollte Opa nun wissen. Wir vergaßen unser Spiel und waren schneller unten als oben. Irgendwann haben wir dann noch das Spiel geholt. Manche Erfahrungen vergisst man nicht, so beendete er seine Erzählung. Das ist ein Beispiel für die Einbettung eines Lernereignisses in eine emotional bedeutsame Situation. Dieser Großvater folgte einer Intuition und keinem Lernprogramm. Er nutzte den Augenblick, schaffte mit einer paradox erscheinenden Anregung ein mathematisches Lernereignis, das noch viele Jahre später in der Erinnerung seines inzwischen erwachsen gewordenen Enkelkindes lebendig war. Zählen hatte von diesem Augenblick an für ihn eine positive Bedeutung.

Erinnerung an eigenes Lernen

Gönnen Sie sich einen Moment des Erinnerns. Versuchen Sie einmal Lernräume ihrer Kindheit zu entdecken. Sie sehen Menschen, erinnern Einzelheiten, spüren Spannung oder Anspannung, erinnern Aufgaben, die gelöst werden sollen. Versuchen Sie auch, sich an ihre Gefühle zu erinnern. Hat das Ereignis ihre Lernfreude gefördert oder eher reduziert? Warum haben sie gerade diese Situation erinnert?

Jetzt wissen sie vermutlich mehr über Lernen als nach der Lektüre einer klugen Abhandlung.

Spiel als Quelle von Selbstzufriedenheit und Lernfreude

Im Kindergarten ist es vor allem das Spiel, das dem Kind erlaubt, neue Fertigkeiten zu erproben, Lösungen und Strategien für immer komplexere Probleme zu erfinden und emotionale Konflikte zu bewältigen. Trotz Anstrengung, gelegentlicher Frustrationen und Momenten von Langeweile kann das Spiel daher für das Kind zu einer unersetzbaren Quelle von Zufriedenheit, Selbstsicherheit und positivem Selbstwertgefühl werden. Das Spiel ist heute ein bedrohtes Gut, das in ein „Schutzprogramm“ für gesunde Lebens- und Lernbedingungen aufgenommen werden müsste. Die Fähigkeit zu spielen scheint aber sowohl bei vielen Kindern als auch bei ihren Eltern in beunruhigendem Maße verloren zu gehen. Der damit verbundene Mangel an Erfolgserlebnissen und Selbstwirksamkeitserfahrungen verstärkt bei den Kindern Unzufriedenheit, Langeweile und führt zu raschem Aufgeben schon bei kleinen Herausforderungen. Einfache Förderprogramme können nicht leisten, was im Spiel versäumt wurde.

Lernen findet in einem sozialen System statt

Lernen im Kindergarten und in der Schule vollzieht sich immer in einer Gemeinschaft. Kinder können schon frühe voneinander lernen, miteinander agieren, Probleme aufwerfen und gemeinsam nach Lösungen suchen. Werden diese Aktionen mit Interesse verfolgt, von Freude begleitet und durch Applaus belohnt, so stellen sie die wichtigsten Voraussetzungen für gelingende Lernprozesse dar.

Erzieherinnen und Lehrer müssen diese Prozesse pflegen und entsprechende Entwicklungs- und Gestaltungsanreize geben. Im Spiel sammeln Kinder z.B. vielfältige emotionale und kognitive Erfahrungen, die sich auf eine differenzierte Ausbildung ihres Gehirns auswirken.

Feste als Lernereignisse

Als Schulleiter habe ich mich immer auf die schulischen Feste und Rituale gefreut. Die Schulanfänger wurden mit Musikstücken, Liedern, Gedichten, kurzen Erzählungen und kleinen Theaterstücken begrüßt. Veränderungen in den Räumen und auf dem Schulhof, die Einrichtung eines Schulgartens, die Verbesserung des Spielplatzes oder die Gestaltung einer Außenwand waren Anlässe für kleine Feste. Die kurzen aber zahlreichen Beiträge der Schülerinnen und Schüler gaben einen Einblick in ihre Schaffensfreude. Bei einer Geburtstagsfeier hatte jede Klasse ihr eigenes Ritual. Auf diese Weise wurde Gemeinschaft erlebt und gefeiert. Am Ende der vierten Klasse wurden die Schülerinnen und Schüler im Rahmen eines Festes verabschiedet. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sie unzählige Lernerfahrungen gesammelt. Die meisten davon werden sie wieder vergessen. Was bleiben sollte, ist die Erfahrung, dass das Lernen in einem emotionalen und sozialen Bezug stand und mit Erfolgen und Bestätigung zu tun hatte.

Lernen erfordert emotionale Achtsamkeit?

Lernen ist ein sehr komplexer Vorgang, der auf einem guten Zusammenspiel von emotionalen, sozialen und kognitiven Prozessen beruht. Erfahrene Erzieherinnen, Lehrer und Lehrerinnen gehen deshalb emotional achtsam mit sich selbst um. Das ist eine Voraussetzung für Empathie gegenüber Kindern. Kreativ und zielstrebig arbeiten emotional kompetente Erzieherinnen und Lehrkräfte mit ihren Kolleginnen und Kollegen an einer pädagogischen Konzeption, in deren Kern es um die Beachtung und Förderung der gesamten Persönlichkeit geht. Ohne sich im Gestrüpp der vielfältigen Alltagsbelastungen zu verfangen, schaffe sie für die ihnen anvertrauten Kinder und Schüler Lernräume, die Entdeckungen ermöglichen. Sie werden vor allem dafür sorgen, dass störende Einflüsse wie Demütigungen von Mitschülern nicht zugelassen und Konflikte geklärt werden. Unsicherheitssituationen, die durch Gewaltandrohung, Gewalt oder Mobbing geschaffen werden, beeinträchtigen das Lernvermögen der betroffenen Kinder nachhaltig. Sie müssen daher, wenn Lernen gelingen soll, bearbeitet werden und dürfen auf keinen Fall unbeachtet bleiben oder abgetan werden.

Die Bedingungen müssen stimmen

Erfolgreiches Lernen hat neben der individuellen Komponente immer auch Rahmenbedingungen als Voraussetzung. Gegenwärtig müssen diese in vielen Einrichtungen erst noch geschaffen werden.

Wenn Kinder die Chance erhalten, Probleme selbstständig zu lösen, entwickeln sie über die Zunahme ihrer Handlungskompetenz eine intrinsische Motivation, die sich wiederum auf ihr Selbstwirksamkeitskonzept stabilisierend auswirkt. Kinder brauchen, um hinreichend offen für neue Wahrnehmungen, kreativ und neugierig zu bleiben, ein Gefühl von Sicherheit und Vertrauen. Da sie mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen in die Institutionen Kindergarten und Schule kommen, müssen sich Erzieherinnen und Lehrerinnen auf die Heterogenität von Lerngruppen einstellen und diese bei ihrer Arbeit angemessen berücksichtigen, um möglichst jedem Kind seinen Lernweg zu eröffnen. Das individuelle Lernen ist immer eingebettet in strukturelle Rahmenbedingungen, die Lernforschritte eher begünstigen oder behindern können. Außerdem braucht es wirksame Ausbildungskonzepte für Erzieherinnen, Sozialpädagogen, Lehrer und Lehrerinnen.

Reformschulen schaffen Lernerfolge über Freude am Lernen

Es gibt zwei grundlegende Tendenzen in der Bildungspolitik. Die Schuladministration verfolgt – gestützt durch Erlasse, Rahmenrichtlinien und Evaluationsgläubigkeit das Konzept der autoritären Fernsteuerung von Lernprozessen. Aber es gibt immer mehr Schulen, die an den Reformkonzepten der 20iger und 30iger Jahre anknüpfen und Modelle der Eigenverantwortung entwickeln und praktizieren. Hier finden über das grundlegende Konzept der Erfahrung von Selbstwirksamkeit permanent Lern- und Bildungsprozesse statt.

Freude der Eltern

Es gibt sehr elementare Erfahrungen, an die sich die meisten Eltern erinnern. Da kann das erste Bad des Babys sein, das können seine ersten Laute und später seine ersten Schritte sein. Leider lässt das Interesse bei vielen Eltern mit der Zeit nach.

Als Vater bin ich meistens mit Vorfreude zu den schulischen Veranstaltungen gegangen, bei denen Musik- und Theaterprojekte vorgestellt wurden. Ich konnte meine Kinder in Aktion mit ihren Mitschülerinnen und Mitschülern erleben und die Freude an den Aufführungen gemeinsam mit anderen Eltern teilen. Der Applaus belohnte die Ideen und Darbietungen der Schülerinnen und Schüler und das Engagement ihrer Lehrerinnen und Lehrer. Das Interesse am Zeugnis ist nicht unwichtig, aber Kinder brauchen Anerkennung und Bestätigung für ihr tägliches Bemühen. Leider überwiegt oft die Kontrolle.

Langzeitwirkung früher Motivation

„Wenn das dein Großvater hätte erleben können, sagte eine Mutter vor nunmehr 58 Jahren zu ihrem damals 8jährigen Sohn, als er auf einem alten Akkordeon, eine kleine Melodie spielte. Freude klang aus ihren Worten und die Vorstellung, dass sich der Großvater darüber noch viel mehr gefreut hätte. Das Staunen der Mutter, ihre Freude über das Spiel ihres Sohnes verbunden mit der ihrer Erinnerung an ihren Vater blieb als emotionale Erinnerung in dem Jungen haften.

Aus der Rückschau ist es für ihn ein Wunder, wo seine Mutter damals – in der Kriegs- und Nachkriegszeit – ein altes Akkordeon, dessen Balg voller Löcher war, hatte auftreiben können. Weit hatte es der Junge mit seinem Akkordeonspiel nicht gebracht. Irgendwie versandete sein Spiel. Das Geld reichte nicht für einen kontinuierlichen Unterricht. Erst im Alter verschaffte sich eine Sehnsucht aus der Kindheit Gehör. Jede Woche nimmt der Mann nun Akkordeonunterricht. Wenn er in die Tasten greift und mit dem ungelöcherten Balg laute und leise Töne hervorbringt, klingt etwas mit von der Hoffnung und Wünschen der Mutter und es gesellt sich die Freude dazu, auch im Alter noch lernfähig zu sein: emotional, kognitiv und motorisch, denn die Noten wollen nicht nur gelesen, sie wollen auch klanglich, melodisch und rhythmisch ausgeführt werden.

Foto: Beatrix Schminke-Gebauer

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